Siena. Die wilden Pferde
Sie hatte aufgehört zu zählen. Letztlich war es doch
egal, wieviel Stufen sie hinter sich hatte. Wieviel Stufen vor ihr
lagen. Dicht hinter sich hörte sie seine Schritte, seinen schneller
werdenden Atem.
- Ich habe noch genug Luft, ich könnte beschleunigen, ihn abhängen. Er
wird nicht den Atem haben, zu rufen, er wird nicht hinter mir herkommen,
er wird stehen bleiben, tief Luft holen, sein Herz wird rasen und er
wird darüber nachdenken, wie hoch über der Stadt er schon ist, wie tief
der sichere Boden unter ihm. Und er wird schwindeln, während ich die
Höhe genieße. Warum ist er mitgekommen, warum will er unbedingt mit mir
in die Höhe? Warum verfolgt er mich, atemlos, verschwitzt, verängstigt?
Sie hatte den Turm von unten gesehen und sofort gewußt, daß sie hinauf
mußte, ganz nach oben. Hatte gespürt, daß die Welt von dort oben anders
aussehen würde. Er hatte sich nur neben sie gestellt und stumm mit dem
Kopf geschüttelt, war aber keinen Schritt von ihrer Seite gewichen.
Nicht ein Wort hatte er gesagt, während sie zielstrebig den Platz
überquert hatte, durch den Torbogen in den kühlen Innenhof des Rathauses
getreten war, sich unter der niedrigen Tür gebückt und den Aufstieg zum
Turm betreten hatte. Sie hatte sich kurz zu ihm umgedreht, die
Schweißperlen auf seiner Stirn entdeckt. Sie hätte ihn gern auf dem
Boden zurückgelassen.
Mit jedem Schritt spürte sie die zunehmende Höhe, das Bedürfnis, Abstand
zu gewinnen. Sie sah sich jetzt nicht mehr um, wollte seine Schritte
nicht mehr hören, nicht seinen Atem, nicht seine Stimme. Die Stadt hatte
sie wortlos gemacht. Nicht stumm, sie spürte deutlich ihre eigene
Sprache. Aber die Worte blieben aus, es gab hier nichts mehr zu sagen.
Es gab ihre weit geöffneten Augen, seine zweifelnder werdenden Blicke.
Sie waren am frühen Morgen in Siena angekommen, waren an der hohen,
abweisenden Stadtmauer vorbeigefahren. Sie hatte gewußt, es würde nicht
einfach sein, die Stadt zu betreten. Noch außerhalb der Mauern hatten
sie eine kleine Pension gefunden, waren erschöpft auf das Bett gefallen
und hatten sich von den Strapazen der Fahrt erholt. Er hatte versucht,
sie zu umarmen, sie war an die Kante ihres Bettes ausgewichen, bis er
sich wieder zurückgezogen hatte. Dann war sie eingeschlafen, traumlos.
Er hatte noch einmal den Arm nach ihr ausgestreckt, im Schlaf nach ihr
getastet, sie aber nicht gefunden. Trotzdem war sie davon wachgeworden,
hatte sich trotz der Hitze fester in ihre Decke gewickelt, sich
zusammengerollt. Seine Nähe war ihr nicht angenehm, er roch nach
Schweiß, nach Erschöpfung von der langen Fahrt. Ihr eigener Körpergeruch
war nicht besser, ihr T-Shirt war verklebt. Trotzdem wollte sie nicht
nackt neben ihm liegen. Später war sie aufgestanden, hatte sich lange
unter die kalte Dusche gestellt, sich das Wasser über den Kopf, die
Haare, das Gesicht rinnen lassen, dem Rauschen nachgelauscht, gefühlt
wie ihre Haut kälter, weicher und frischer wurde. Noch naß hatte sie
sich in das große Badetuch gewickelt und war hinaus auf den kleinen
Balkon getreten. Er hatte weiter geschlafen, sich unruhig von einer
Seite auf die andere gedreht. Nur kurz hatte sie ihn angesehen, bevor
sie den Balkon auf der Rückseite des Hauses betrat. Unter ihr lag der
mit alten, hohen Bäumen, die noch etwas Schatten warfen, bewachsene
Garten. Es gab ein paar Weinsträucher, Olivenbäume und viele schön
blühende Pflanzen, die sie nicht kannte. Sie hatte sich in die Sonne
gestellt, die bald ihren höchsten Punkt erreichen würde, es war heiß.
Ihre bleiche Haut würde in den nächsten Tagen braun werden, ihre blonden
Haare weiter ausbleichen, hell und leuchtend werden. Vom Balkon aus
hatte sie die grau-ockerfarbenen Mauern der Stadt gesehen, die eng
beieinander stehenden Häuser, den Zebraturm des Doms, den hohen
Rathausturm. Still war sie stehengeblieben, während ihre Haare in der
Sonne trockneten, die Locken sich kringelten. Gern hätte sie das
Badetuch einfach fallen lassen. die Sonne die letzten kleinen Tropfen
von ihrer Haut dampfen lassen, die Haare kurz ausgeschüttelt und wäre
zurück hinter die dicken Mauern des Hauses ins Zimmer gegangen. Die
Vorstellung seiner Blicke auf ihrer Haut hatte sie davon abgehalten. Sie
hatte den Kopf nach vorn über die Brüstung gebeugt, ihre langen Haare
waren ihr ins Gesicht gefallen und sie hatte den feuchten, frischen Duft
tief eingesogen, gespürt wie sich die Gänsehaut vom Nacken hinunter
ausbreitete, das Badetuch enger über der Brust zusammen gezogen und
hinüber zu den Mauern der Stadt gesehen.
- Ich habe Vorsprung. Es ist gut, seine Schritte nicht mehr zu hören,
nicht seine schwerer werdenden Atemzüge, sich nicht den Geruch seines
Schweißes kurz hinter mir vorstellen zu müssen. Mehrere Windungen liegen
dazwischen, die dicken Mauern, die abgewetzten Treppenstufen. Er wird
die Taube nicht sehen, die tot am äußersten Rand der Mauerscharte liegt,
fast herabstürzt zu ihrem letzten Flug über den Platz. Er wird den
schmalen Ausschnitt Hügel und Häuser nicht sehen, die wie Schemen vor
dem blassen, heißen Himmel stehen. Er wird vorbeieilen ohne Blick,
atemlos, schwitzend, vorbei an den entgegenkommenden Menschen, die sich
in die Ecken am Rand der engen Treppe zwängen, die Bäuche einziehen, die
Kinder zurückzerren.
Sie stieg weiter zügig Stufe für Stufe den Turm hinauf, bedankte sich
bei den Leuten, die ihr Platz machten, auf italienisch, obwohl es
hauptsächlich Deutsche, Engländer oder Holländer waren. Sie beherrschte
nur wenige Worte dieser Sprache, aber sie schien ihr die einzig
angemessene. Die Treppe führte steil und eng nach oben, sie fühlte den
glatten, von den vielen Händen speckigen Stein angenehm kühl ihre
Schulter streifen.
Als sie ins Zimmer zurückgekommen war, hatte sie an seinen gleichmäßigen
Atemzügen gehört, daß er noch immer tief und fest schlief. Sie wäre gern
erfrischt und gut duftend wieder ins Bett gekrochen, nackt, die Decke
nur leicht auf dem Bauch liegend. Er wäre wach geworden, hätte sie
angestarrt, versucht sie anzufassen. Er hatte sie bisher nicht gefragt,
warum sie seinen Berührungen auswich, hatte kein Wort gesagt. Sie selbst
war immer stummer geworden, wollte nicht mehr in ihrer Sprache sprechen,
er würde sie ohnehin nicht verstehen. Kurze Zeit später war er
wachgeworden, war nackt aus dem Bett gestiegen. Sie hatte sich
umgedreht, weggesehen, wollte seinen weißen Körper nicht sehen, den
Bauchansatz, die vom warmen Schlaf sicherlich vorhandene Erektion.
Mittlerweile hatte sie sich bekleidet, ihre weiche Sommerhose, der
leichte, bunt gebatikte Seidenstoff lag ihr angenehm auf den Schenkeln.
Seine Nacktheit war ihr unangenehm gewesen, fast widerlich. Er war im
Zimmer auf und ab gegangen, als wolle er sie zum Hinsehen provozieren.
Sie war seinem Körper und seinen Blicken ausgewichen, bis er endlich
seine Klamotten gefunden und sich angezogen hatte. Keine Wolke am
Himmel, so blau ist er nur im Süden, hatte sie gedacht. Bald würde die
Sonne tiefer stehen, heiß, aber nicht mehr so unbarmherzig brennend.
Bald würden sich die Straßen wieder mit Menschen füllen. Sie hatte sich
vorgestellt, sich nur leicht bekleidet unter den Strom der Menschen zu
mischen, ihnen zu folgen, die dünnen Träger ihres kurzen Tops über die
Schulter gerutscht, der Bauchnabel umspielt von der warmen, vom
Steinpflaster aufsteigenden Luft. Sie hatte sich vorgestellt, daß die
Leute in der Stadt schön seien, gebräunte Haut, die Frauen sorgfältig
geschminkt, mit langen schwarzen Haaren, nach gutem Parfüm und der Hitze
ihrer Körper duftend. Sie hatte sich ihre langärmlige Bluse angezogen,
unter dem Bund der Hose festgesteckt. Er hatte nicht gefragt, ob ihr das
nicht zu warm sei.
- Es kann nicht mehr sehr weit sein bis oben. Ich habe die oberen
Fenster erreicht, durch die Bögen die Dächer Sienas erblickt. Von hier
könnte ich schon runter auf den Platz blicken, die kleinen Punkte sehen,
die überall auf dem Ziegelpflaster lagern. Ich werde erst auf dem
Rückweg hier stehenbleiben und noch einen Blick hinabwerfen. Ich will
jetzt ganz nach oben, mich an den letzten entgegenkommenden Bäuchen
vorbeidrängen. Erst von oben werde ich alles sehen. Ich hätte ihn allein
gehen lassen sollen, hätte erst später hierher gehen sollen, ohne ihn.
Aber er wäre allein nicht gegangen, er hat auf mich gewartet, hat nichts
gesagt, aber es war klar, daß wir über den Platz gehen, den Turm
besteigen werden. Er ist mir gefolgt, obwohl er am liebsten unten
geblieben wäre. Ich habe ihm nicht gesagt, daß ich ihn nicht dabei haben
möchte. Ich werde nicht auf ihn warten.
Der Bus in die Stadt war fast leer gewesen. Sie hatte sich einen der
hinteren Plätze ausgewählt, war, als er sich neben sie gesetzt hatte,
aufgestanden, um ihre Fahrkarte zu entwerten und hatte sich danach auf
einem anderen Sitz niedergelassen. Er hatte sie nur kurz angeblickt und
war, nachdem er seine Karte ebenfalls in den Stempelautomat gesteckt
hatte, zu seinem Platz zurückgekehrt. Für den Rest der Fahrt hatte er
zum Fenster hinausgeblickt, sie konnte an seinem Spiegelbild in ihrer
Scheibe erkennen, daß sein Kopf manchmal den Mädchen folgte, die am
Straßenrand gingen. An der Endhaltestelle, einem großen Platz am Rand
der Altstadt, war er als erster ausgestiegen, draußen hatte er dann aber
auf sie gewartet. Sie war an ihm vorbeigegangen, der breiten, leicht
abwärtsführenden Gasse nach, hinein in die Stadt. Es war hier kühler,
sie hatte es gespürt, hatte den Schatten der hohen, alten Steinhäuser
wohltuend empfunden. Es war eigentümlich ruhig, als schluckten die
Steine den Schall, die Schritte der Menschen klangen gedämpft auf dem
Steinpflaster. Das Licht war nicht mehr so hell und direkt. Sie hatte
tief durchgeatmet, sich an eine der Hauswände gelehnt und hinauf in den
blauen Himmel geschaut. Ein paar Mauersegler waren zu sehen, die
geschickt zwischen den Dächern segelten, ein paar Tauben, die sich an
Drähten hoch oben an der Hauswand festklammerten. Er war stehengeblieben,
mitten im Strom der Menschen, hatte sie schweigend angesehen und war
erst weitergegangen, nachdem sie ihre Schultern vom rauhen Stein gelöst
hatte. Obwohl sie niemals zuvor hier gewesen war, kam ihr der Weg fast
bekannt vor, sie folgte einfach der Gasse und staunte über die Auslagen
der Geschäfte, die süßen Konditoreiwaren, die teueren, edlen Schnäpse,
die Etiketten ihrer Lieblingsweine. Sie war vor einem der Fenster
stehengeblieben, hatte dem Gespräch von zwei alten Männern zugehört,
nichts verstanden außer den Namen von ein paar Politikern, von denen sie
nicht wußte, ob sie den beiden sympathisch waren oder nicht. Sie hatte
sich die schweren Mandelkuchen mit hungrigen Augen betrachtet, bis die
beiden Alten das Thema wechselten und mit leuchtenden Augen und
freudiger werdender Stimme vom Palio redeten. Sie hatte davon in ihrem
Reiseführer gelesen. Palio, die wilde Reiterei um den großen Platz, das
mittelalterliche Treiben, zu dem die Menschen zusammenkamen, bunt
gekleidet, mit Fahnen, die schon jetzt überall in der Stadt aus den
Fenstern hingen. Sie sah die Begeisterung der Männer, diese Stadt mußte
sich nicht verkleiden.
Sie hatte ihn fast vergessen, hatte an die Pferde gedacht, die bunten
Kostüme. Aber er war nicht weit von ihr vor einem Fenster mit
Herrenbekleidung stehengeblieben, starrte die teueren Anzüge an. Sie
wußte, daß er sich für diese Yuppie-Mode noch nie interessiert hatte.
Wahrscheinlich war die Scheibe ein guter Spiegel, durch den er sie
beobachten konnte. Es hatte sie nicht mehr gekümmert. Sollte er ihr
ruhig weiter folgen, er würde von Schritt zu Schritt weniger verstehen,
nichts von den Pferden, nichts von den Kostümen. Nicht wissen warum er
hier war, nicht wissen wer sie war.
Der Platz mußte nun direkt vor ihr liegen, verborgen hinter dem Ring der
hohen Häuser, die ihn säumten. Bisher hatte sie ihn nur auf Fotos
gesehen, den hellen, weiten Campo, zum Rathaus hin leicht abfallend,
eine Muschel. Sie hatte sich vorgestellt, dort in der Sonne zu sitzen,
Cappuccino zu trinken, hinauf zum Campanile zu schauen. Zunächst hatte
sie es nicht geschafft, den Platz zu betreten, herauszutreten aus den
Schutz der engen Gassen. Ein paar Stufen hinunter, durch einen Torbogen
- sie hatte die Ziegelpflaster gesehen, das Licht, das alles in warmen
Ockertönen erleuchten ließ. Sie war die Treppen nicht hinuntergegangen,
hatte sich nach links in die nächste Gasse begeben. Er hatte es zunächst
gar nicht bemerkt, war vorausgegangen, die Treppe hinab, hatte sich nur
kurz nach ihr umgesehen, gestutzt. Dann hatte sie seine Schritte wieder
hinter sich gehört, schneller werdend, bis er aufgeholt hatte. Dann
hatte sie kein Ohr mehr für seine Schritte, lauschte lieber den
Geräuschen der Stadt, dem Röhren der Motorroller, die gnadenlos an ihr
vorbeifuhren, den vielen Sprachen, den Vögeln, die die oberen Etagen der
Häuserschluchten durchjagten. Die Gasse hatte sie bergab geführt, weg
von den Hauptgeschäftsstraßen. Sie hatte durch die weit geöffneten Tore
in die düsteren Werkstätten von Tischlern geschaut, den Duft nach frisch
gehobeltem Holz und warmen Leim gerochen, den Geruch von feuchtem Lehm,
der aus einen dunklen Treppenhaus auf die Straße wehte, hatte die
Handwerker in den oberen Fluren mit Eimern und Kellen klappern hören,
nur schwer dem Drang widerstehen können, hinauf zugehen, ihnen bei der
Arbeit zuzuschauen. Sie war weitergegangen in sanften Bogen bergab. Die
Stadt war für sie wie eine Spirale um den Platz, der sie folgen mußte,
bis sie die Mitte erreichen würde.
Über ihr wehten aus den Fenstern die bunten Paliofahnen mit den
seltsamen Wappentieren der Stadtteile, daneben Windeln, Handtücher,
langweilige Unterhosen, Spitzenwäsche in leuchtendem Weiß. Es war die
Contrade mit dem Fisch, geschnitzt und silbern gestrichen bildete er den
Fuß der Leuchter, die an jeder Hauswand angebracht waren. Sie war
stehengeblieben, hatte hinaufgeschaut, gewußt, daß sie bei Nacht unter
dem Schein der vielen Glühbirnen gehen würde. Hand in Hand. Aber nicht
mit ihm. Sie hatte sich nicht nach ihm umgedreht. Sie war
weitergegangen.
Über einen kleinen Platz und eine Treppe war sie in den nächsten
Stadtteil gekommen. Hier wehten warm-rote - Magenta, hatte sie gedacht,
die Modefarbe, meine Lieblingsfarbe - Fahnen, in der Mitte ein Elefant
auf gelben Grund im Strahlenkranz der Sonne. Das könnte meine Flagge
sein, mein Wappentier, hatte sie gedacht. Die Gasse hatte sie wieder
leicht bergauf geführt, der Turm war über den Dächern der Häuser zu
sehen, dann die Öffnung der Gasse zum Platz, zum Licht. Sie war
schneller gegangen, hinausgetreten in die Wärme, die Sonne, war
geblendet von der Helligkeit, der Weite des ansteigenden Muschelplatzes.
Sie war zielstrebig zur Mitte des Campo gegangen, hatte sich an einer
der vielen Souvenirbuden ein Halstuch mit dem eben gesehenen Motiv
gekauft, es sich um die Schultern geschlungen, wie sie es zuvor bei den
Mädchen, die singend durch die Straßen gezogen waren, gesehen hatte.
Jeder würde sie als Touristin identifizieren, es war ihr egal gewesen.
Sie hatte gewußt, daß es richtig so war. Dann hatte sie sich auf den
warmen Boden gesetzt, hinauf zum Turm geblickt, die an den Hauswänden
aufgestellten Tribünen für den Palio gesehen, den festen Sand der
Rennbahn um den Platz. Und sie hatte den Geruch der Pferde wahrgenommen,
die hier am Morgen ihre ersten Proberunden gelaufen waren.
Sie ging ganz nach vorn, beugte sich über die hohe Mauerbrüstung, sah
hinab auf den Platz. Warm drückten sich die Steine in ihren Bauch. Sie
fühlte die Erschöpfung, die vom Laufen durch die Stadt müden Beine,
hatte das Bedürfnis, sich anzulehnen, die Augen zu schließen. Wie lange
würde es dauern, bis er die Plattform erreicht hatte, sich neben sie
stellte, den Arm nach ihr ausstreckte? Sie blickte über den Platz
hinaus, die um den Campo gelegten Ringe der Stadt, die Ocker-Häuser.
Terra di siena, sie erinnerte sich an die stumpfe Deckfarbe aus ihrem
Schulmalkasten. Hier war die Sonne Farbe, leuchtend, transparent, warm.
Die meisten Fensterläden waren geschlossen, als sei die Stadt verlassen,
unbewohnt, bis sie am Abend, wenn die Sonne zahm und angenehm golden die
braune Haut erleuchten läßt, wieder besiedelt wird, neu bewohnt von
Menschen, die die Fensterläden aufreißen, Arm in Arm über dem Platz
stehen, hinabschauen, sich zurückziehen in die langsam kühler werdenden
Räume und nach einiger Zeit hinaustreten auf die Straßen, jeder in seine
Richtung. Sich bei anbrechender Dunkelheit lieben auf den Dachgärten,
heranrollen an die brüchigen, rostigen Gitter, nahe dem Abgrund
verharren. Aber nur für einen kurzen Augenblick.
Sie konnte genau in den Innenhof eines kleinen Klosters am Rande des
Platzes schauen. Kein Mönch war zu sehen, vielleicht gab es sie hier
nicht mehr. Sie sah die Bögen und Säulen des Kreuzganges, ging ihre
Runde von der Schattenseite zur Sonnenseite, den Kopf gesenkt, die
Schritte gleichmäßig, ein Rhythmus zum Rezitieren von Gedichten, von
neuen Gedanken. Kein Mensch ist dort, es wird warm auf der Sonnenseite,
die Schatten der Säulen unterteilen den Weg, es wird angenehm kühl auf
der Schattenseite, Tag, Nacht, Tag, die Monate. Sie ist müde, sie will
sich am Rande des Gangs auf die Mauer setzen, mit geschlossenen Augen
warten. Wenn nicht die Schritte wären, die sie weitertreiben im Kreis,
Tag, Nacht, Tag. Sie öffnete die Augen, unter ihr das Kloster, noch
immer kein Mönch im Kreuzgang. Ein paar neue Touristen waren auf der
Plattform angekommen, sie hörte ihn keuchen, vom Aufstieg, hörte seine
schlurfenden Schritte, sah die Schweißperlen auf seiner Stirn. Sie mußte
weiter. Es ging noch eine kleine, enge, offene Leitertreppe im
Glockengestühl nach ganz oben. Sie mußte weiter und sie wußte, daß er
ihr dorthin nicht folgen würde. Erst dort oben würde sie den Blick weit
öffnen, ganz hinaus aufs Land. Sie ging dicht an ihm vorbei, er runzelte
die Stirn, diesmal wollte er etwas sagen, aber es fehlte ihm noch der
Atem. Er roch nach Schweiß und nach Angst. Sie betrat die ersten Stufen
der Leitertreppe. Keine Mauer hielt ihren Blick fest, kein Halt in der
dunstigen Ferne.
Dann blickte sie in die Augen der Frau, die ihr von oben entgegen kam.
Schwarze Augen, schön geschnitten. Klassisch fiel ihr ein. Italienisch
fiel ihr ein. Sie blieb stehen, um die Frau vorbeizulassen. Diese war
ebenfalls stehengeblieben, lächelte ihr zu, wollte ihr den Vortritt
gewähren. Sie trug ein enges gelbes Minikleid, stand in der Sonne, die
die Formen ihres Körpers hervorhob, die ungeschminkten, festen Lippen,
die geraden Schultern, die runden Brüste. Sie konnte erkennen, daß die
Frau keinen BH trug, sah die Brustwarzen hervortreten. Sah die
sonnengebräunten Arme, die Beine, die durch die Treppe noch länger und
schlanker erschienen. Die Frau hatte bemerkt, wie sie sie musterte,
lächelte, schloß kurz die Augen, blickte sie dann wieder an mit den
schwarzen Pupillen, wechselte auf die andere Seite der Treppe, ließ das
Geländer los, ging dicht an ihr vorbei, streifte ihre Schulter, berührte
mit der Hand ihren Arm. Die Hand fühlte sich weich an. Auch sie hatte
über der Schulter das Elefanten-Tuch. Sie sah ihm allerdings an, daß es
nicht die neue Touristenqualität von den Buden auf dem Platz war, daß es
schon jahrelang im Gebrauch war, abgewetzt von den Kämpfen um eine guten
Platz, getränkt vom Schweiß der Sieges- oder Verlustfeiern. Sie blieb
stehen, ließ die Frau an sich vorbeigehen, atmete tief ein, spürte die
Wärme, den Duft ihres Parfüms. Es war dezent, fast unbemerkbar. Sie
hatte es trotzdem noch immer in der Nase, als die Frau schon ein paar
Stufen unter ihr war. Sie drehte sich noch einmal nach ihr um, sah, daß
das gelbe Kleid im Rücken tief ausgeschnitten war, ihre Haut nahtlos
braun. Die Frau hatte den Fuß der Treppe erreicht, auch sie schaute
zurück, öffnete den Mund zu einem Wort, das sie nicht verstand, schloß
kurz die Augen und verschwand im Treppenhaus des Turms. Sie selbst
drehte sich wieder um und stieg endgültig zur höchsten Stelle des Turms
hinauf.
Ganz oben erschien ihr die Luft frischer, der Platz lag tief unter ihr
in der flimmernden Nachmittagshitze. Er war ihr nicht gefolgt, sie stand
mit nur wenigen Besuchern an der Brüstung und ließ den Blick schweifen,
folgte dem langen Schatten des Turms über den Häusern bis zur Mauer,
über die neuen Stadtteile hinaus. Die Chianti-Berge lagen im Dunst,
hintereinander gestaffelte Hügelketten, gestuftes Graublau am Horizont,
dunkles Grün, golden abgeerntete Getreidefelder, die Staubfahne eines
Mähdreschers, einsame Häuser umstanden von dürren Zypressen, Weingüter,
die kleine Kirche auf dem gegenüberliegenden Hügel, wieder die Mauer der
Stadt, der Turm des Doms, die hohe Mauer der nicht fertiggestellten
Domerweiterung und die tiefen Schluchten der kühlen Gassen, in denen sie
die kleinen Menschen wimmeln sah. Dann wieder groß und hell der
Muschelplatz, die Sandbahn für die Pferde, die Tribünen, die Fahnen. Sie
lehnte sich an die Mauer, schloß die Augen. Er war ihr nicht gefolgt.
Sie atmete ruhig, spürte einen leichten Luftzug in den Haare, hielt die
Augen geschlossen.
- Steigt mit der warmen Luft der strenge Pferdegeruch aus dem Innenhof,
dort wo sie vorbereitet werden auf das große Rennen, bis hier hinauf?
Ich rieche es, hier an die Mauer gelehnt, die Sonne wärmt mir die Stirn,
dringt rot durch die geschlossenen Augenlider. Ich bin müde, möchte
schlafen, hier auf dem Turm, in der Sonne. Er wird mir nicht folgen
hierher. Die Mauersegler schweben um den Turm, ich kann sie hören, kann
die Stimmen der Menschen neben mir an der Brüstung hören, die gedämpften
Töne der Stadt, die irgendwo dort unten liegen muß. Ich werde die Augen
nicht öffnen. Ich rieche die Pferde, wie sie auf den Platz geführt
werden, begleitet von den jungen Mädchen, die die Kampfgesänge
anstimmen, den jungen Männern, die mit naß zurückgekämmten Haaren und
überlegenem Blick die Pferde der Gegner abchecken, dicht hinter den
Pferden die kleinen Jockeys mit dem Wappen der Contrada, Helden oder
Verräter, der nächste Tag wird es zeigen. Sie betreten den Platz, alles
schreit auf, die Pferde verschwinden im Innenhof des Rathauses, pinkeln
aufgeregt in den Sand. Bis hier hinauf weht der scharfe, einschläfernde
Geruch. Die wilden Pferde sind da, die Pferde ohne Sattel. Am Rand der
Bahn drängen sich die erregten Zuschauer, diskutieren über die möglichen
Sieger und Verlierer, streiten über die unterschiedlichen Tips,
fachsimpeln über das Können der Jockeys oder ob das Pferd seinen Weg
allein finden wird. Erzählen sich die Geschichten vom letzten Jahr, von
der Nacht des Sieges, den Paaren, die sich gefunden haben, den Paaren,
die sich verloren haben. Der Böller des Starters führt kurz zu
schreckhafter Ruhe, die Pferde reiten zum Startplatz, mühsam von den
Jockeys im Zaum gehalten, haben Schwierigkeiten, vor dem Startseil
stehenzubleiben, die Stille ist spannungsgeladen. Der Startschuß, ein
erschreckter Aufschrei, die wilden Pferde galoppieren los, kaum in der
Bahn zu halten, beißen nach allen Seiten, aber keiner der Zuschauer
weicht einen Schritt zurück. Die Mauern beben leicht unter dem Hufschlag
auf dem harten Sand, der Boden vibriert. Schweißnaß ist das Fell der
Tiere, Schaum vor den Mäulern, die Jockeys klammern sich fest, finden
ohne Sattel kaum Halt auf den Pferderücken. Der mit dem gelben Trikot
liegt in Führung, er stürzt fast, findet zurück. Er trägt den Elefant
auf der Brust, seine langen schwarzen Haare wehen mir voran, ich muß
Anschluß finden, mein Pferd schwitzt, das Fell wird klitschig-feucht,
ich umklammere mit nassen Händen die Zügel, darf jetzt nicht stürzen.
Der gelbe Reiter ist nur knapp vor mir, ich muß ihn erreichen. Presse
meine Schenkel eng an das Pferd, meinen Körper an das Fell. Das Trikot
ist naß, klebt an der nackten Haut, reibt an den Schenkeln, der Körper
bebt auf und nieder, willenlos, nicht mehr steuerbar. Es ist egal wohin
wir reiten, ich muß hinter den langen schwarzen Haaren her, hinter dem
gelben Trikot mit dem Elefant. Die Sonne blendet, bis wir um die Kurve
die leichte Erhöhung des Platzes hinaufreiten, fast auf gleicher Höhe.
Ich komme näher, der Schaum des Pferdes weht mir ins Gesicht, ich blicke
hinüber, die Reiterin in dem kurzen gelben Minikleid preßt ihre nackten
Schenkel an des schwarze Pferd, schaut mit leicht geöffneten Lippen
herüber, lächelt mit halb geschlossenen Augen. Wir reiten nebeneinander
her, egal wohin, ich lasse die Zügel los, klammere mich um den Hals des
Pferdes. Die Zuschauer weichen zurück, wir reiten über den Platz hinaus,
hinein in die dämmrigen, kühlen Gassen der Stadt, die Fahnen streifen
mir leicht über den Kopf, die Haare. Die Pferde dampfen unter unseren
aufgeweichten Körpern, wir bleiben gleichauf, sehen uns in die Augen,
spüren deutlich jede Bewegung der Pferde unter uns, wiegen uns mit ihnen
im gegenläufigen Takt. Hart schlagen die Hufe auf das Pflaster der
menschenleeren Gassen, vorbei an den Schaufenstern, den geöffneten Toren
der Werkstätten, dem warmen Leimgeruch, vorbei an den plätschernden
Brunnen mit ausgedörrter Kehle, durch die Stadttore, die große
Ziegelmauer, immer bergab, durch das Tal, die Hügel sind vor uns
aufgereiht, gestuftes Graublau am Horizont, das dunkle Grün, die
Weinberge. Wir reiten wieder bergauf, die Stadt liegt kleiner werdend am
gegenüberliegenden Hang, hinein in die Weinberge, die Olivenhaine. Ein
kleiner Brunnen ist unter den Olivenbäumen im Schatten, wir sind
abgesprungen im wilden Ritt, die Pferde sind verschwunden, nur ihr
Geruch liegt noch in der Luft und der Geruch unserer heißen Körper, des
Schweißes. Wir benetzen die Hände mit dem kalten Wasser, die Gesichter,
die Haare, Schultern, gießen es uns gegenseitig über den Rücken, spüren
es den Po, die Beine hinablaufen, wärmer werden. Sie dreht sich, kleine
Wassertropfen fliegen aus ihren Haaren, ihre Spitzen berühren leicht
mein Gesicht, ich spüre die Gänsehaut stärker werden. Sie bleibt vor mir
stehen, greift meine Hände, wir legen uns in den Schatten der
Olivenbäume ins Gras, das weich ist, seltsamerweise überhaupt nicht
sticht. Die Gänsehaut an Armen und Beinen wird stärker, ich sehe ihre
schwarzen Augen, die mich sanft anblicken, spüre meinen Kopf schwer nach
hinten sinken, am Stamm des knorrigen Olivenbaums anschlagen.
Sie öffnete die Augen, blinzelte in die tief über der Stadt stehende
Sonne, fühlte den kalten Schweiß auf der Stirn. Ihr Kopf war nach hinten
an die Mauer gesunken, sie war davon erwacht. Ein schöner Traum, dachte
sie. Ihr Kopf schmerzte etwas von der Sonne, glücklicherweise war sie
kurz vor dem endgültigen Sonnenstich erwacht. Schade um den Traum,
dachte sie. Sie stand auf, trat wieder an die Brüstung, sah hinunter auf
die Plattform. Er stand noch immer dort, starrte hinab auf den Platz.
Sie sah wie die Rennbahn mit langen Schläuchen naß gespritzt wurde. Am
Abend sollte ein weiterer Probelauf stattfinden. Diesmal würde sie ihn
sich ansehen. In den Gassen waren die Menschen unterwegs zum Campo,
farbenfroh mit ihren Tüchern. In einer der Gassen, die bergab führten
sah sie eine Person mit leuchtend gelber Kleidung. War es die Frau von
der Treppe, die Frau aus ihrem Traum? Sie sah ihr nach, sah sie um eine
Hausecke verschwinden, in einer anderen Gasse wieder auftauchen, sah,
daß sie stehenblieb, sich umdrehte, zum Turm zurückblickte. Sie würde
sie sicher nicht erkennen, hier oben, gegen das Licht der
Spätnachmittagssonne. Sie konnte erkennen, wie die Frau sich die Hand
schützend vor die Augen hielt, nach oben schaute, direkt zu ihr hin, den
Arm hob und winkte. Sie hob ebenfalls den Arm, winkte zurück. Die Frau
hob beide Hände in die Höhe, schwenkte sie nach rechts, deutete auf ein
Haus, in dessen Eingang sie dann verschwand.
Sie versuchte, sich das Haus einzuprägen, versuchte, sich den Lauf der
Gassen einzuprägen, die sie gehen mußte, um dort hin zu kommen. Sie zog
ihr Tuch enger über die Schulter, spürte einen leichten Sonnenbrand im
Nacken, schaute wieder hinab in die Gasse und war nicht mehr sicher, auf
welches Haus die Frau gedeutet hatte, in welchem Haus sie verschwunden
war. Sie stieg die Treppe hinunter auf die Plattform, achtete nicht mehr
auf die Aussicht, nicht mehr auf die ihr entgegenkommenden Leute. Sie
wollte nach unten, zurück auf den Platz, zurück in die Stadt. Als sie
den Fuß der Treppe erreicht hatte, sah er zu ihr hinüber, wandte sich
dann sofort wieder dem Ausblick auf den Platz zu, als könne er dort
etwas verpassen. Sie verschwand im Treppenschacht des Turms, ohne ihn
noch einmal anzusehen. Diesmal würde er ihr nicht folgen, sie wußte es.
Er würde dort stehenbleiben, hinabstarren, bis der Turmwächter ihn
hinunter schickte. Sie eilte die engen Stufen herunter, bemühte sich,
auf den abgetretenen Tritten nicht den Halt zu verlieren, erntete böse
Blicke der Menschen, die ihr entgegen kamen, die besorgte Frage, ob ihr
übel sein. Ihr war nicht übel. Sie fühlte das Kribbeln im Bauch, achtete
nicht mehr auf ihre müden Beine. Unten im Innenhof bemerkte sie wieder
den strengen Pferdegeruch, erinnerte sich an den Traum. Noch niemals in
ihrem Leben war sie auf einem Pferd geritten. Sie trat hinaus auf die
frisch gewässerte Sandbahn, ging schnellen Schritts über den feuchten
Sand, spürte die Kühle aufsteigen, hörte kaum die gellenden
Trillerpfiffe einer Polizistin, die verzweifelt versuchte, die Menschen
von der frischen Bahn fernzuhalten, sie gerade entdeckt hatte, aber
nicht erreichen konnte. Schnell verschwand sie in der Gassen neben dem
Rathausturm. An der Ecke des Turm wehte die Elefantenfahne. Sie hatte
den Verlauf der Gassen noch ungefähr im Kopf, war sich aber nicht mehr
genau sicher, wo sie in Seitengassen abbiegen mußte. Vom festen Boden
aus sah die Stadt ganz anders aus. Sie kam an der Kirche vorbei, deren
Kreuzgang sie von oben gesehen hatte, den man von hier noch nichteinmal
erahnen konnte. Sie blieb kurz stehen, versuchte sich zu orientieren,
bog dann nach rechts in eine Gasse ein. Sie ahnte die Richtung, fand
trotzdem nicht den richtigen Weg, stand plötzlich in einem Tor, das sie
wieder zur Stadt hinausführte, andere Fahnen wehten aus den Fenstern.
Sie schaute sich um, sah den Turm, erinnerte sich, daß sie hier schon zu
weit weg war, weiter nach rechts mußte, ging wieder bergan in die
Altstadt zurück. Dann sah sie wieder die roten Fahnen mit dem Elefant im
Kranz der Sonne, ging durch mehrere Gassen, erkannte aber nicht das
Haus. Sie hatte sich die Form des Daches eingeprägt, einen kleinen
Dachgarten. Nichts davon war von der Straße aus zu entdecken. Die Straße
mündete wieder auf eine breitere Gasse, sie blickte hinauf zu den oberen
Stockwerken der Häuser, war sich nicht sicher. Weiter oben in der Gasse
baumelte an der Wäscheleine in einem oberen Stockwerk ein leuchtend
gelbes Kleidungsstück. Sie ging darauf zu, blieb unter der Leine stehen,
starrte hinauf. Es war das gelbe Minikleid, tropfnaß auf die Leine
gehängt. Unten auf der Straße war eine kleine Pfütze, einige Tropfen
fielen ihr kühl aufs Gesicht. Sie betrat den dunkeln Haueingang, blieb
stehen, bis sich die Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, stieg die
alte Holztreppe nach oben. Hinter den Türen hörte sie Kindergeschrei,
roch den abgestandenen Geruch von vielen Menschen und schnell bereitetem
Essen, den würzigen Geruch eines gerade fertiggestellten Abendgerichts,
Basilikum und Lavendel. Sie stieg hinauf bis ins oberste Stockwerk. Dort
gab es nur noch eine Wohnungstür, dunkelrot gebeizt, mit einem
Türklopfer in der Mitte. Sie griff den Ring und ließ ihn zaghaft gegen
das Holz fallen. Da war wieder das Kribbeln im Bauch, die Gänsehaut.
Hinter der Tür war kein Geräusch zu hören, alles schien in der Wohnung
ruhig. Sie überlegte, ob sie versuchen sollte, die Tür einfach zu
öffnen, griff erneut nach dem Klopfer, ließ ihn fester gegen die Tür
schlagen. Dann hörte sie Schritte, leicht, von nackten Füßen auf
Holzboden. Sie sah, wie der Türdrücker nach unten ging. Die Tür wurde
weit geöffnet, sie hob den Kopf, ging einen Schritt vorwärts.
ENDE
© 1994 by Klaus Bölling, alle Rechte vorbehalten