Auch sie sah zu ihm hin, sie konnte ihn nicht mehr
erkennen, doch sie sah immer noch zur Form des schwarzen Automobils
hinüber. Und dann, zuletzt, sah sie sie nicht mehr. Der Hafen verschwand
und danach das Festland.
Marguerite Duras, Der Liebhaber
Venedig. Irgendwo
Er hatte keinerlei Vorstellung von der Stadt. Niemals war er dort
gewesen. Hätte man ihn gefragt, hätte er gern von Venedig im Winter
erzählt, vom weiß verschneiten Markusplatz, den Tauben mit weißen
Käppchen. Oder von den Tagen, an denen der Platz unter Wasser stand, vom
Schwanken der ausgelegten Stege, von der Struktur der rauhen Bretter,
die er durch die aufgeweichten Wildlederschuhe spürte. Aber er wußte
nicht einmal, ob die Kanäle Eisschollen trugen im Winter, nicht wie lang
der Schnee liegen blieb, nicht wie er roch. Er hatte keinerlei
Vorstellung von der Stadt, der er sich, seit er an diesem heißen
Hochsommertag das Schiff betreten hatte, immer weiter näherte. Das
Schiff hatte abgelegt, nur mühsam hatte er einen der raren Plätze im
Schatten gefunden, von denen aus man noch den Blick auf die Bucht
genießen konnte. Ankommen. Wie kommt man an in dieser Stadt. Er hatte
darüber nachgedacht, an der Reling des Schiffs gestanden, hinaus auf die
flimmernde Bucht gestarrt. Er würde ankommen wie all die anderen,
angekarrt mit einem der Linienschiffe, ausgespuckt in der Nähe des
Markusplatzes, das hatte er auf der Karte schon gesehen, im Strom der
anderen Reisenden vom Schiff drängeln und die Wege gehen, die alle
gehen.Der Horizont lag im Dunst, die Berge hinter der Küste, die Städte,
die sich um die Stadt sammelten. Dort hinten im Dunst mußte sie liegen.
Venedig. Irgendwo.
Es wird Nacht sein, wenn er hier ankommt, eine Nacht im Winter, der
Bahnhof wird leer sein, leer und kalt. Und niemand wird warten, niemand
hat bei der Abreise gewinkt. Mögliche Bilder. Ein Zug, der im Bahnhof
steht bei der Abreise, die Scheiben lassen sich nicht herunterschieben,
die Wärme im leeren Abteil ist feucht und stickig. Er sieht hinaus auf
den Bahnsteig, sie hat sich umgedreht, die Kapuze fest über den Kopf
gezogen. Er sieht ihre Schritte, immer dem Ausgang zu, fast rutscht sie
auf einem eisigen Stück Asphalt aus, ihre Schritte sind entschlossen und
sie wird sich nicht mehr umdrehen, wird nicht das Taschentuch zücken,
wird nicht winken. Er reißt an den Fenstergriffen, aber es bewegt sich
nicht, formt die Lippen schon zu einem Schrei, der sie nicht erreichen
wird, auch bei geöffnetem Fenster nicht mehr erreicht hätte, der deshalb
unterbleiben kann. Mögliche Bilder. Der Zug, der einfährt in den Bahnhof
einer Stadt, die er nicht kennt, in eine Bahnhofshalle wahrscheinlich,
die vom trüben Licht verstaubter Neonröhren unzureichend beleuchtet
wird, die leer ist, geschlossene Kioske, flackernde Leuchtreklamen, in
den Schattenecken vielleicht ein paar Penner auf der Suche nach etwas
Wärme. Die Bilder sind schemenhaft, verschwommen, der Blick in die Halle
wie durch den Dunst abgestandener Luft. Es riecht nach dem Diesel der
Lokomotiven, dem Schmieröl, den Menschen, die tagsüber hier angekommen
sind. Jetzt wartet niemand, der Zug rollt langsam aus, die Bremsen
kreischen besonders laut, um so ruhiger ist es danach. Und zwischen den
beiden Stationen, die Reise, wie ist sie gewesen? Einfach nur die
Entfernung, sonst nichts? Es gibt nur hier und dort. Es gibt nur hier.
Er konnte an der zunehmenden Zahl gezückter Fotoapparate erkennen, daß
sie der Stadt näherrückten, daß sich bald die ersten Häuser aus dem
Dunst über dem Wasser schälen würden. Die Silhouette der am Wasser
liegenden Häuser, die er kannte, obwohl er niemals dort gewesen war, aus
dem Reiseführer, vielleicht aus Filmen. Unbeeindruckt, er war sich
sicher, er würde unbeeindruckt dort ankommen, sehen, was durch die
vielen Bilder nicht mehr erkennbar war, die Fotos machen, die alle
machten, auch wenn das Licht ungünstig war. Später den gleichen Blick
als Postkarte kaufen, wiedererkennbar allein durch die Aufschrift der
Rückseite. Das ist nicht dieses Wasser und nicht dieser Himmel,
vielleicht sind es nichteinmal diese Häuser.
Dann tauchten sie auf, das Schiff näherte sich schnell, wurden
deutlicher und wurden benannt, wiedererkannt, der Dogenpalast und die
Kenner wußten weitere Namen. Auch das war ihm egal. Er würde keinen
dieser Paläste betreten. Eine Entscheidung, die er schon vor der Abfahrt
des Schiffes getroffen hatte. Er würde unbeeindruckt sein, sich nicht um
die Namen der Häuser scheren, nicht um ihr Baujahr, nicht um ihre
Besitzer und nicht um deren Schand- oder Heldentaten. Er würde ankommen
wie all die anderen auch, die dicken Bäuche unter den viel zu knappen
T-Shirts, die von der Sonne knallrot verbrannten Köpfe unter den
Baseballkappen, die grell-bunten Kleider. Er würde ankommen und niemand
würde warten.
Sie hat nichts mehr gesagt zum Abschied. Sie hat ihre Hand zurückgezogen
und die Arme verschränkt, die Kapuze über ihre langen, braunen Haare
gezogen und die Sonnenbrille über die grauen Augen, obwohl es ein
trüber, kalter Wintertag war. Warum ist sie dann ins Auto gestiegen, hat
schweigend die Beifahrertür geöffnet, ihn zum Bahnhof gefahren? Warum
ist sie mitgekommen, warum ist sie stehengeblieben, bis er das Abteil
betreten hat und hat sich umgedreht, kurz bevor er herausschauen konnte?
Und nichts mehr gesagt zum Abschied. So könnte es doch auch gewesen
sein, ein klassischer Abschied. Stattdessen am Morgen der geplanten
Abfahrt der Zettel unter dem Scheibenwischer ‘Ich komme nicht mit. Ich
komme nie mehr.’ Nicht mehr, kein Wort, kein Anruf, kein Brief. Er hatte
nicht angerufen, war ins Auto gestiegen mit seiner Reisetasche, war
nicht wie abgesprochen an ihrer Wohnung vorbeigefahren und allein den
weiten Weg hierher gefahren, hatte allein das gebuchte Zimmer in der
Pension bezogen. Niemand hatte ihn nach ihr gefragt.
Es gab für ihn nur zwei Möglichkeiten in Venedig anzukommen. Im Sommer
mit dem Schiff, das jetzt in weitem Bogen auf den Anlegesteg zufuhr und
im Winter mit dem Zug. Eine Vorstellung, die ihn reizte. Es war Sommer,
es war heiß, obwohl es noch am frühen Vormittag war flimmerte die Luft
über dem Wasser. Es war Sommer und er dachte darüber nach, wie es sein
könnte in der Stadt, die er nicht kannte anzukommen, auf einem Bahnhof,
den er nie gesehen hatte, vielleicht nichteinmal sehen wollte.
Vielleicht war es gar nicht richtig, hier im Sommer anzukommen,
vielleicht war der Winter die einzig adäquate Jahreszeit für diese
Stadt. Eine Jahreszeit, in der er sich mehr für die Stadt interessiert
hätte, sogar für die Namen der Paläste, für die Mosaiken, von denen er
gelesen hatte, deren Abbild er im Reiseführer bestaunt hatte, die er
sich nicht ansehen würde. Fuhren die Schiffe auch im Winter, wie würde
es sein, hier bei Kälte und Schnee die Häuser am Wasser auftauchen zu
sehen, mit nur wenigen Menschen im warmen Deck des Schiffs zu sitzen,
anzulegen, die leere Stadt zu betreten?
Das Schiff hatte angelegt, er drängelte sich nicht, wartete, bis die
meisten Menschen das Schiff und den Anlegesteg verlassen hatten, dann
betrat auch er den Steg und dann die Stadt. Er blieb stehen, sah sich
um. Das Wasser, die ersten Gondeln, die sich über die Bucht durch die
Bugwellen der größeren Schiffe quälten, die gegenüberliegenden Inseln,
die Einmündung des Canal Grande, Paläste, Kirchen, der Campanile. Er war
stehengeblieben, geblendet von der Sonne, geblendet von der Stadt, die
ihn fesselte, schon bei diesem ersten flüchtigen Rundblick. Entgegen
seinem festen Willen war er beeindruckt. Wie mochte es gewesen sein für
die Seefahrer, die nach den langen Schrecken der Meere diese Stadt
erblickten, aus dem Dunst auftauchend wie ein Märchen, als sei sie nicht
wahr, auch heute nicht wahr. Er überlegte, ob er das Schiff wieder
betreten sollte, unverrichteter Dinge hier wieder abfahren sollte. Er
fühlte sich einsam. Einsam als sei die Stadt nur für Paare geschaffen,
diese alberne Vorstellung, diese Erwartungen. Vielleicht war es aber gar
nicht die Stadt, vielleicht war es nur der Sommer, die Hitze, die
sonnengebräunten Schultern und Beine der Mädchen und nicht die Stadt.
Sie war nicht mitgekommen. Vor der Abfahrt hatten ihn seine Kollegen
gefragt, ob er nicht doch nach Venedig fahre, um heimlich zu heiraten.
Als gebe es nicht die Möglichkeit, hier allein anzukommen, allein das
Schiff zu verlassen, allein den von erbärmlich fetten Tauben
verschissenen Markusplatz zu betreten. Als gebe es nicht die
Möglichkeit, die Gondeln zu meiden, die Serenadensänger mit ihren
falschen Liedern, die schrägen Tangos der Salonmusiker unter den
Schirmen vor den überteuerten Cafés am Markusplatz. Sie war nicht
mitgekommen.
Die wenigen Schritte vom Bahnhof zum Canal Grande, es sind kaum Menschen
unterwegs, ein paar Nachtschwärmer haben sich gegen den kalten Wind die
Schals eng um den Hals geschlungen, die Köpfe unter weiten Kapuzen
verborgen, festliche Kleider unter langen Mänteln. Wenn jemand auf ihn
gewartet hätte, wenn er die Stadt nicht allein betreten hätte, was wäre
ihm aufgefallen, hätte er die wenigen Menschen gesehen, sich Gedanken
über die Mäntel der Frauen gemacht, geschaut, ob die Italiener auch im
Winter elegant-flache Lederschuhe tragen? Der kurze Weg zum Canal
Grande, wird es noch ein Boot geben, das ihn zu einer kleinen Pension
fährt, zu einem alten Haus an einem kleinen Kanal, abbröckelnde
Putzfassade, nur vom Wasser aus zu betreten?
Ein enger, wackeliger Steg, der Taxifahrer reicht ihm das wenige Gepäck
aus dem Boot, kassiert einen Preis, von dem er aufgrund der vielen
Nullen nicht weiß, wie teuer er wirklich ist, dreht sich um,
verschwindet mit dem Boot im Kanal ohne zu warten, ob die Tür der
Pension um diese späte Zeit wirklich noch geöffnet wird. Es ist still in
der Stadt, das Motorengeräusch verschwindet um die Ecke im nächsten
Kanal, die Lichter des Schiffs. Der Steg ist glitschig, das Wasser des
Kanals dunkel, wenig Unrat treibt auf der Oberfläche, die Bugwellen des
Taxischiffs laufen sich tot an den Hauswänden. Eine tote Ratte treibt
neben dem Steg, die Genossin der anderen, die auf dem schmalen Sims des
gegenüberliegenden Hauses knapp über dem Wasser hin und her rennen,
durch die Geräusche des Bootes nur kurz erschreckt waren und jetzt
wieder ihren nächtlichen Dingen nachgehen. Den Plänen, wie sie endlich
die Pest in die Stadt bringen können, die Fundamente unterhöhlen können.
Über der Tür der Pension baumelt eine trübe, schwache Lampe in einer
Fassung, die mit ihren rostigen Schrauben kaum mehr Halt findet in der
morschen Wand. An der schweren Holztür ein Klopfer, der venizianische
Löwe mit einem Messingring im Maul, festgelötet, damit jeder die
danebenliegende Klingel benutzen muß. Ein Stilbruch, an solche Türen
kann man nur klopfen. Bevor er die Klingel drücken kann, wird die Tür
von einer jungen Frau in einem langen schwarzen Kleid geöffnet. Sie sagt
ein paar Begrüßungsworte in der Sprache, die er leider nicht versteht,
er äußert seinen Zimmerwunsch in der Sprache, die sie augenscheinlich
ebenfalls nicht versteht. Sie tritt zur Seite, bittet ihn hinein. Dort
ist es warm. Er betritt das alte Haus, er ist angekommen in dieser
Stadt. Es ist Winter, es ist Nacht.
Vor dem Markusdom standen lange, mühsam kanalisierte Schlangen,
Reiseführer, die Schirme in die Höhe hielten, vergeblich versuchten,
ihre Herde in der Hitze beisammen zu halten. Er ging lächelnd daran
vorbei, froh, keines dieser Gebäude betreten zu müssen, nicht den Dom,
nicht den Dogenpalast nicht den großen Turm auf dem Platz. Eines Tages
würde er all dies sehen, eines Tages würde er sicher wiederkommen, das
zumindest wußte er nach den wenigen Minuten in der Stadt. Wahrscheinlich
würde er auch dann nicht mehr verstehen von dieser Stadt. Er sah den
großen Platz, sah die Unmengen Tauben, die berühmten Tauben, die er nur
ekelhaft fand. Taubenvergiften, der ganze große Platz am frühen Morgen
bedeckt mit den vergifteten Vögeln, eilig und heimlich zusammengefegt
mit den leeren Getränkebüchsen und den Zigarettenkippen des Vortags, in
Säcke geschippt. Die Viecher trippelten zwischen seinen Füßen,
schwirrten erschreckt nur wenige Zentimeter über seinen Kopf, er spürte
den Flügelschlag, setzten sich auf Arme, Hände, Köpfe der jungen Männer,
die sich zum auf Kleinbildfilm festgehaltenem Ruhm und zur Freude ihrer
aufgeregt schnatternden Freundinnen auf den Platz stellten, Kekskrümmel
in den offenen Händen hielten. Er ging zurück unter die mit Tüchern
gegen die Hitze verhängten Arkaden, hatte Angst, eine der Tauben würde
ihm von oben auf den neuen Panamahut scheißen. Die Cafés verströmten den
Charme einer anderen Zeit, als Männer mit weißen Anzügen und runden
Strohhüten hier einkehrten, mit Frauen in weißen Spitzenkleidern auf den
plüschgepolsterten Sesseln Platz nahmen, von Kellnern mit pomadigem Haar
ihren Cappuccino serviert bekamen, dann mit den Damen, eigenen oder
fremden, in den Hotels verschwanden, erst am Abend zurückkehrten zum
Tanz zur Musik der Salonorchester, die auch heute noch versuchten den
Klang dieser Zeit hervorzuzaubern. Es mißlang. Die Männer trugen keine
runden Strohhüte mehr, sie trugen, auch die älteren, Baseballkappen mit
dem Signet von Teams, deren Namen sie weder kannten noch aussprechen
konnten. Er ging an den Cafés vorbei, wußte, daß es ihm ohnehin nicht
gelingen würde, den Geruch dieser Zeit aus dem Polster zu schnüffeln,
das Parfüm der Frauen in den weißen Spitzenkleidern. Es schien ihm nicht
richtig, allein an einem der Tische Platz zu nehmen. Und er vermutete,
daß der Cappuccino schlecht und wahnsinnig teuer sein würde. Er hatte
Bilder gesehen, der Platz überschwemmt, vielleicht im Winter, eine
einzelne Person, es war nicht zu erkennen, ob Mann oder Frau in weitem,
schwarzem Regenmantel auf einem der Notstege, fast schwebend über dem
Wasser, schwarzweiß fotografiert gegen den grauen Himmel, die feuchten
Fassaden der Häuser. Er erinnerte sich nicht, ob die Tauben auf diesem
Foto zu sehen waren, konnte es sich aber nicht vorstellen. Sie hätten
nicht gepaßt. Sicher war die Person eine Frau, eine Frau im weiten
schwarzen Mantel auf dem Weg über den Platz, auf dem Weg zu einem Mann,
der schon im Trocknen in einem der Cafés saß, sich die nassen Haare
ordnete, die Tropfen aus dem Gesicht wischte, auf sie wartete. Eine Frau
auf dem Weg zu ihrem Lover. Eine Frau auf dem Weg durch den Winter, auf
dem Weg über das Wasser. Er war allein hier. Es war Sommer, es war heiß.
Durch eine der nicht verhängten Arkaden sah er hinaus auf den Platz.
Zwei Japanerinnen stellten sich in Positur für ein Foto. Grazile,
schmale Frauen in weiten, leichten Hosen, mit flachen Schuhen, bunten,
engen Shirts, langen schwarzen Haaren unter großen Hüten. Schöne Frauen.
Sie standen nebeneinander, legten sich die Arme über die Schulter,
wurden von einer dritten Freundin, die ziemlich weit entfernt stand, in
die richtige Positur gewinkt, Markusdom, Campanile, die beiden Frauen,
standen stramm, den Blick geradeaus auf die Kamera gerichtet,
nebeneinander, berührten sich kaum, nur die Arme über der Schulter,
rückten noch ein paar Zentimeter nach rechts, standen still. Ein Foto,
zwei Japanerinnen, kleine stramme Gestalten auf dem großen, weiten
Platz, kaum erkennbar vor dem berühmten Panorama. Die Freundin hatte das
Foto gemacht, eilte herbei, die beiden umarmten sich, diesmal enger,
gingen auseinander, eine griff die Kamera und die Freundin nahm zur
Wiederholung des Fotos ihren Platz ein. Das Ritual wiederholte sich,
würde sich zur dritten möglichen Kombination nochmals wiederholen. Drei
Fotos. Er hatte Lust, sich neben die Fotografierende zustellen,
ebenfalls seine Kamera zu nehmen und die beiden unbekannten Frauen zu
fotografieren, zu fotografieren wie sie stramm und steif nebeneinander
standen, wie sie sich nach dem Foto umarmten, auseinander gingen. Er
traute es sich nicht, traute sich nicht, aus dem Schutz der Arkaden die
Szene zu fotografieren, kam sich vor wie der Voyeur einer verbotenen,
verborgenen Begegnung, die nur für diese drei stattfand, alle anderen
ausschloß.
Sie geht voran, hinein in eine große Halle mit verputzten Steinwänden,
einem alten Marmorfußboden, verlangt den Ausweis, verstaut ihn in einem
Fach im Rezeptionstresen in der Ecke der Halle, greift sich einen
Schlüssel vom Brett und deutet auf die Treppe. Sie geht voran, steigt
die Treppe hinauf, die schmalen Fessel ihrer weißen Füße unter dem Saum
des schwarzen Kleides, ohne Strümpfe, die Formen ihres Körpers, die
langen Beine nur zu erahnen unter dem schwingenden Stoff, schlanke,
lange Beine, sicherlich ebenfalls weiß, ihr kleiner Po, sichtbar bei
jedem Schritt treppauf, die schmale Taille dort wo das Kleid eng wird,
hinten auf dem Rücken geknöpft und hochgeschlossen bis zum Hals, der
weiß aus dem Kragen hervortritt, die langen Haare zu einem Zopf
gebunden, das Profil des Gesichts von hinten nur zu erahnen, die Brüste,
die sich unter dem weichen Stoff abzeichnen. Sie bleibt am Treppenabsatz
kurz stehen, dreht sich um, ihre offenen, dunklen Augen, die kleine
Nase, der volle, nicht geschminkte Mund. Sie lächelt, dreht sich wieder
um, betritt den Flur und öffnet mit dem Schlüssel die Tür zu einem
Zimmer, bleibt an der Schwelle stehen, blickt kurz hinein und tritt zur
Seite. Er betritt den Raum, sie wünscht von der Tür aus Gute Nacht,
immerhin, das versteht er in ihrer Sprache, dreht sich um und steigt die
Treppe wieder hinab.
Es ist warm im Zimmer, die Luft ist etwas abgestanden, riecht nach der
Feuchtigkeit des Kanals, der unter dem Fenster fließt. Er öffnet die
Fensterflügel, sieht hinunter auf das dunkle Wasser, hört, wie es gegen
die Hauswand schwappt, hört die Motoren, der wenigen Boote, die auf dem
um die Ecke liegenden größeren Kanal Richtung Canal Grande fahren. Er
schließt das Fenster wieder, sieht sich den Raum an. Nicht besonders
groß aber sehr hoch, ein Tisch in der Nähe des Fensters, ein Stuhl, ein
Schrank an der Wand, das breite Doppelbett, durch eine Tür erreichbar
das Bad, die Toilette. Er stellt die Reisetasche ab, schlägt die
Bettdecke zurück, eine weiche Wolldecke in ein weißes Laken
eingeschlagen, legt den Mantel ab, zieht den Pullover über den Kopf, das
T-Shirt, öffnet den Gürtel der Hose, den Bundknopf, den Reißverschluß,
streift die Hose herunter, die Strümpfe. Es ist warm im Zimmer, nur über
dem Bett leuchtet eine kleine Lampe. Er betrachtet seinen Körper im
Spiegel, die verblichene Bräune des letzten Sommers, den kleinen
Bauchansatz, die Schwellung unter dem Slip. Zieht den Slip langsam
herunter, die abgegrenzte weiße Haut des Pos, die Konturen der Badehose,
dreht sich um, geht zum Bett, kriecht nackt unter die warme Decke,
achtet darauf, daß die Haut nicht mit der Wolldecke in Berührung kommt.
Geht mit beiden Händen unter die Decke, fährt die Formen des heißen
Körpers nach, die Beine, die Schenkel, die Pofalte, zwischen den
Schenkeln hindurch über den Bauch, die Brust, spürt die leichte Erhöhung
der Brustwarzen, preßt die Decke zwischen die Beine, die Hände wandern
zurück, greifen sanft die Erektion, streichen auf und ab, langsam,
langsam. Draußen ist das Schwappen des Wassers zu hören, das entfernte
Brummen der Motoren, kein Geräusch aus dem Haus. Die eine Hand greift
fester zu, reibt auf und ab, spürt die warme, pulsierende Haut, wird
schneller, die Decke, die andere Hand zwischen den Schenkeln. Die Haut
wird feucht, wird warm, schneller, schneller, das Laken wird naß, klebt
an der Haut. Er verreibt die klebrige, warme Creme um den Bauchnabel,
mit dem Laken auf dem ganzen Bauch, sie wird kälter, das Laken klebt an
der Haut. Es ist warm im Zimmer, er löscht das Licht. Es ist dunkel im
Zimmer.
Er hatte genug von den Juweliergeschäften unter den Arkaden des
Markusplatzes, wer sollte diesen ganzen goldenen Müll kaufen. Durch
einen Torbogen unter den Häusern hindurch verschwand er in einer der
Gassen, die Richtung Canal Grande führten. Rialto, der Name der
berühmten Brücke war an den Hauswänden angeschrieben, Pfeile zeigten in
die Richtung. Es hätte gereicht, den Mengen der Touristen zu folgen, er
wäre zielsicher dort gelandet. Er hatte überlegt, ob er überhaupt
Richtung Brücke gehen sollte, ob er auf diesen Höhepunkt jeglichen
Besuchsprogramm nicht ebenfalls konsequent verzichten sollte. Zunächst
entschied er sich, die Gasse zu verlassen, sich abseits des großen
Menschenstroms zu halten. Er wollte sehen, ob in dieser Stadt Menschen
lebten, einfach hier wohnten, die Fenster öffneten, im Unterhemd auf der
Fensterbank lehnten, hinabschauten. Vorstellen konnte er sich das kaum.
Auch in den kleineren, nicht überlaufenen Gassen gab es jede Menge
Läden, die die kitschigsten Glasmassenprodukte aus Hongkong als echte
Murano-Ware anpriesen, daneben enge Bars, Frucht- und Gemüseläden. Doch,
hier mußten Menschen leben, er sah sie mit den vollen Einkaufstüten in
kleinen Toreinfahrten verschwinden, in dunklen Nebengassen, in
verwinkelten Gängen, die in die lichten, hohen Innenhöfe der Hausblöcke
führten. Eine verwinkelte Stadt, in der es sich lohnen würde, sich zu
verlaufen, den Weg zu verlieren, die Orientierung. Er war einigen dieser
Gänge gefolgt, in die verfallenen Innenhöfe gelangt, vor Treppen
stehengeblieben, die zu den Wohnungen in den oberen Stockwerken führten,
in Häuser, die von keiner Gasse aus zu erreichen waren, vielleicht an
ihrer Rückseite noch einen Zugang vom Kanal aus hatten. Er war in den
Innenhöfen stehengeblieben, hatte hinaufgesehen zu den gegen die Hitze
verschlossenen Fensterläden, die Geräusche aus den Wohnungen gehört, das
Klappern des Mittagsgeschirrs, die Stimmen der Kinder, ein Klavier und
die Hits aus dem Radio, die überall die gleichen waren, die Stimmen der
Moderatoren, ihre Gespräche mit Hörern, die auch die gleichen waren. Nur
die Sprache war anders, flirrte in der Sonne, machte diese Innenhöfe für
ihn fast irreal, unverständlich. Welcher Teil der Stadt war echt,
welcher nur Kulisse? War für ihn alles eine Kulisse, die er
verständnislos betrachten konnte, für kurze Zeit, und die er dann wieder
verließ? Wie war es für die Leute hinter den Fenstern, unsichtbar aber
vorhanden, mit dem Geschirr klappernd, singend, brüllend, zeternd? Er
stand im Hof, die Häuser waren verschlossen, niemand nahm Notiz von ihm.
Kein Mensch war zu sehen, nur die Stimmen, die flirrende Sprache, die
Radios. Er ging durch die niedrigen, engen und nach Pisse riechenden
Gänge zurück auf die Gasse, überquerte auf einer kleinen Brücke einen
Kanal, unten fuhr eine Gondel, wurde von Motorbooten überholt, der
Gondoliere stand sonnenverbrannt und schwitzend auf dem Heck, in den
Sesseln hatte ein junges Paar Platz genommen, die beiden schauten sich
verliebt in die Augen, hielten sich bei der Hand, umarmten sich, sahen
kaum hinauf zu den Häusern, den weißen Wäschefahnen, die aus den
Fenstern hingen, den Käfigen mit Singvögeln, den Kräutern, die in den
Töpfen auf den Fensterbänken wuchsen.
Er verließ die Gasse durch einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern,
gelangte aber nicht in einen weiteren Innenhof, sondern an einen der
kleinen Kanäle. Der Weg führte nur wenige Meter bis zu einer Hautür, war
sehr schmal, vom Kanal mit einem alten Eisengitter getrennt, das kurz
vor der Tür endete. Dort führten drei Treppentritte zum Wasser des
Kanals. Die Wasseroberfläche war ruhig, ein Spiegel, in dem sich der
Himmel und die Fassaden der Häuser abbildeten. Über der Wasserfläche
waren die Hauswände grün, von Algen bewachsen, vom Wasser zerfressen. Er
ging bis zu den drei Tritten, setzte sich hin, zog die Schuhe aus und
ließ die Füße ins Wasser hängen. Es kostete ihn einige Überwindung, war
aber erfrischend. In einem kleinen Laden hatte er sich einen Beutel
Kirschen gekauft, den er nun öffnete, die Kerne ins Wasser spuckte,
versuchte, die gegenüber liegende Hauswand zu treffen. Es gelang ihm
fast. Es war ruhig hier, kaum ein Ton zu hören, das Brummen der
Geschäftsgassen nur noch gedämpft und entfernt. Auch aus den Häusern war
kaum ein Laut zu hören. Er mochte diese ruhigen Mittagsstunden, wenn
außer den Touristen kaum jemand auf der Straße war, man höchstens in den
dunklen, kühlen Bars bei einer Tasse Espresso stand, die Neuigkeiten aus
der Zeitung debattierte und auf die kühleren Nachmittagsstunden wartete.
Der Kanal verschwand um eine Hausecke, er hörte, wie dort ein Fenster
geöffnete wurde, eine Plastikflasche hinausgeworfen wurde, eine Stimme
etwas rief, das Fenster wieder geschlossen wurde. Die Flasche trieb
langsam und träge auf dem Kanal, trieb auf ihn zu, würde irgendwann
langsam an ihm vorbei treiben, vielleicht hin zum Canal Grande, von dort
zum Meer, vielleicht. Er versuchte, die Flasche mit ausgespuckten
Kirschkernen zu erreichen, traf daneben. Er sammelte mehrere Kerne im
Mund, zerdrückte das Fruchtfleisch der Kirschen mit der Zunge, hatte die
Kerne in der Wangentasche, verschluckte sich fast, holte tief Luft und
preßte die Kerne durch die angespitzten Lippen in Richtung der Flasche.
Zwei oder drei Schüsse der Salve trafen mit einem leichten, dumpfen
Geräusch auf die sanft dümpelnde Flasche, die restlichen ließen das
Wasser kurz aufspritzen, verursachten kleine Kreise, sanken hinab auf
den Boden des Kanals. Er konnte sie nur wenige Zentimeter tief
verfolgen, dann waren sie im trüb-braunen Wasser verschwunden.
Im Haus neben dessen Tür er saß wurde das Fenster einer der Wohnungen in
der oberen Etage etwas geöffnet, er hörte Musik, die lauter gestellt
wurde. Es war eine wilde Liveaufnahme einer seiner Lieblingsgruppen,
deren Sänger sich vor nicht allzu langer Zeit die Gewehrkugel gegeben
hatte. Sie wurde noch lauter gedreht, er hörte die Stimme, die Gitarre,
alles dröhnte leicht zwischen den sonnendurchfluteten Hauswänden, fast
schwebend, die der Musik die Wut, die Aggressivität nahmen. Er platschte
im Takt mit seinen nackten Füßen im Wasser, hatte das Gefühl, daß diese
Musik besser zu den bröckelnden Häusern paßte als die Gesänge der
Serenadensänger, die er in einem der größeren Kanäle gesehen hatte, wie
sie sich in Positur warfen, mitten in der Mittagshitze, für die
Touristen, die, auf mehrere dicht nebeneinander fahrende Gondeln
verteilt, ihrem eigenen Traum von Venedig und Romantik nachhingen,
mitklatschten, was den Sänger irritierte und aus dem Takt brachte, zu
einem Lied wechseln ließ, daß daheim in den Festzelten gesungen wurde
und hier auf italienisch seltsam fremd aber nicht besser klang. Die
Musik wurde wieder ausgestellt, das Fenster geschlossen. Kurz darauf
öffnete sich die Haustür und eine Frau betrat den schmalen Weg. Er
drehte sich zu ihr um, mußte sie eingehend mustern. Kurze rote Haare,
ein punkiger Schnitt, oben länger, im Nacken ganz kurz ausrasiert, die
Augen schwarz und ebenso umrandet, dunkelrot geschminkte Lippen, braune,
ungeschminkte Haut. Sie blieb kurz stehen, sah ihn ebenso direkt an,
lächelte, trat einen Schritt auf ihn zu und deutete mit den Händen eine
Bewegung an, als wollte sie ihn ins Wasser schubsen. Sie trug
Springerstiefeln nachempfundene Schuhe, die aber den etwas teureren
Designer verrieten, einen engen, knappen Minirock, der die langen Beine
gerade aus seiner sitzenden Sicht gut zur Geltung kommen ließ, ein
schwarzes Top, das großzügig die braune Haut durchscheinen ließ. Sie
ging an ihm vorbei, er roch ihr warmes Parfüm, war sicher, daß es ein
Männerduft war, den auch er schätzte, sie deutete eine leichte
Verbeugung und einen Handkuß an und verschwand mit beschwingtem Schritt
durch den Gang in der Gasse. Es dauerte einige Zeit, bis er bemerkte,
daß sie verschwunden war und er ihr noch immer nachstarrte, mit offenen
Mund sicher nicht der betörendste Anblick, den die Gattung Mann zu
bieten hatte. Es schien ihm, als könne er ihr Parfüm noch immer riechen,
warm und würzig neben dem algigen, schalen Geruch des Kanals.
Die Tür könnte aufgehen und sie könnte hereinkommen, in der Öffnung
stehenbleiben, ein Schattenriß gegen das gelbe Flurlicht, schemenhaft
mit leuchtenden Rändern. Sie könnte die Tür geöffnet lassen, das Licht
fällt gerade bis zu seinem Bett, langsam mit wiegendem Schritt auf ihn
zukommen, vor dem Bett kurz stehenbleiben, ihn ansehen, die Decke
greifen und mit einem Ruck beiseite ziehen. Sie könnte sich neben das
Bett knien, seinen Körper betrachten, sein schlaffes, feuchtes
Geschlecht, schnuppern und den Geruch riechen, mit dem Finger den
feuchten Spuren auf der Decke folgen, den langsam antrocknenden Spuren
um seine Bauchnabel herum über seinen Bauch, die Brust hinauf, den Hals
bis zu seinen Lippen, er könnte sie leicht öffnen, die Zungenspitze
ihren Fingernagel berühren, die Fingerkuppe umrunden, den salzigen,
schleimigen Geschmack spüren. Spüren, wie sie den Finger fester an seine
Lippen preßt, tiefer in seinen Mund schiebt, seine Zungenspitze
umkreisen läßt, spüren wie ihre andere Hand den direkten Weg wählt, ihn
fest umfaßt, er wieder fester wird, hart, groß, das Blut pulsiert. Sie
könnte ihren Finger aus seinem Mund ziehen, ihn ablecken, ihre eigenen
Schenkel hinaufführen, unter dem schwarzen Rock verschwinden lassen, er
würde ihre Bewegungen unter dem Rock erahnen, sehen, wie ihr Finger
feucht glänzend erscheint, sie ihn wieder an seine Lippen legt, klebrig,
in seinem Mund verschwinden läßt. Sie könnte ihm den Rücken zudrehen,
damit er Knopf für Knopf ihr schwarzes Kleid öffnet, die weiße Haut
hervortreten sieht, spürt wie fest und warm sie ist, den Stoff über ihre
Schultern schiebt, die Arme hinab, von hinten ihre Brüste umfaßt, sie an
sich zieht, ihren nackten Rücken an seine Brust drückt, seine Hände über
ihren Bauch tiefer wandern läßt, fühlt, daß sie nichts trägt unter dem
Kleid, fühlt wie feucht sie ist. Sie könnte sich herumdrehen, das Kleid
noch immer um den Bauch geschlungen, mit den Lippen seine Brustwarzen
berühren, mit der spitzen Zunge, mit den Zähnen, zubeißen, sanft, fester
werdend, zubeißen, bis der Abdruck der Zähne im Fleisch erkennbar
bleibt. Könnte mit den Lippen seinen Körper hinuntergehen, die letzten
schleimigen Spuren von der Haut lecken, sich mit den Händen die
restliche Kleidung abstreifen in der er sich verfangen hat, sein Glied
mit den Lippen umschließen, auch hier mit der Zunge jeder Linie, jeder
Rinne folgen, erst sanft, dann fester mit den Zähnen. Sie könnte seine
Hände zu ihrem Hintern führen, seine Finger in die Öffnungen führen,
seine Zunge hervorlocken, den Fingern folgen lassen. Sie könnte danach
aufstehen, zur Tür zurückgehen, wieder in der Öffnung stehenbleiben,
diesmal leuchtend weiß, sich zu ihm umdrehen, die Beine leicht spreizen,
die Hände über ihren Körper führen, zwischen ihre Schenkel, sich
umdrehen, das Zimmer verlassen, die Tür schließen.
Er hatte seine Füße aus dem kühlen Wasser genommen, sie in der Sonne
kurz trocknen lassen und war noch feucht in seine Schuhe geschlüpft. Er
wollte dem Geruch des Parfüms folgen, wollte aus dieser ruhigen,
abgeschiedenen Ecke der Stadt wieder hinein in den Trubel, der nur
wenige Meter entfernt in den Gassen herrschte, sich wieder einordnen in
den Menschenstrom, der von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit
pilgerte, nur kurz verharrte, starrte, staunte, fotografierte, dann
weiter eilte. Er wollte vordringen zum Canal Grande, dort auf der
Fondamenta sitzen, den Schiffen zusehen, den Gondeln und die Paläste
bestaunen, die für ihn keinen Namen und keine Geschichte hatten. Er
folgte der Gasse, in der die duftende Frau verschwunden war, kam an
einer Abzweigung vorbei, die wieder zur Rialto-Brücke führte. Er war nur
zwei Häuserzeilen vom Kanal entfernt, blieb aber auf der Gasse,
überquerte einen weiteren Seitenkanal, schüttelte energisch den Kopf zu
den Gondola-Gondola-Rufen der Gondoliere, zu den supergünstigen
Ledertaschen-Angeboten der Straßenhändler, die sofort seine Nationalität
erkannten und ihn in gebrochenem Deutsch darauf aufmerksam machten, wie
sehr sich seine Frau über eine neue Tasche freuen würde. Er schüttelte
den Kopf. Die Gasse mündete auf einen Platz, eine breitere Straße, in
der sich weniger Touristen ballten. Dafür gab es mehr Geschäfte, in
denen die Venizianer für den täglichen Bedarf einkaufen konnten. Er ging
nach links in den Durchgang zwischen zwei Hausblöcken und stand direkt
am Canal Grande. Er war allein hier, niemand wählte diesen engen Weg.
Eine kleine Fondamenta, zum Kanal hin eine Mauer mit ein Paar Säulen,
überdachte Arkaden. Er suchte sich einen Platz im Schatten, setzte sich
auf die Mauer und sah den Kanal, die Vaporetto, brechend voll, eines
nach dem anderen kanalauf, kanalab, die vielen Bootstaxis, Lieferschiffe
mit Getränkekisten, Ölfässern, Ziegelsteinen und Mörtelsäcken,
Baggerschiffe, Kranschiffe und die Schiffe der Menschen, die statt des
Autos ein kleines Boot vor der Haustür vertäut hatten. Der Kanal war
breit, aufgewühlt von dem starken Verkehr, leicht dunstig in der
blendenden Sonne. Gegenüber lagen prächtige Paläste am Wasser, Balkone
mit säulengestützten Dächern zum Kanal hin, die bunt geringelten
Stangen, an denen die Boote der Besucher vertäut werden konnten waren
leer, alle Fenster mit Holzläden verschlossen, ausgestorbene Gebäude,
brüchiger Putz an den Wänden, die Patina von der feuchten Luft. Es
schien ihm, als seien alle Häuser leer, verlassen vor ewigen Zeiten, nur
zufällig stehengeblieben und die Stadt bestehe nur aus dem lebendigen
Kanal, dem Verkehr von irgendwo nach irgendwo, auf Booten
zusammengedrängten Menschen. Es schien ihm, als würden die Fenster nicht
einmal zur Nacht geöffnet, und die Balkone blieben leer. Die Brücke
konnte er von hier aus nicht sehen, aber sie mußte nicht weit entfernt,
durch die leichte Kurve des Kanals verborgen, liegen. Er ging den Weg
den er gekommen war zurück, überquerte wieder den Seitenkanal, wehrte
wieder die Angebote ab, folgte diesmal den Rialto-Pfeilen. Es war eine
faszinierende Brücke, er blieb stehen sah den eleganten Schwung, den
Bogen über den vielbefahrenen Kanal, die Treppenaufgänge zu beiden
Seiten der Brücke, die Buden in der Mitte deren Angebot ihn nicht
interessierte. Langsam stieg der die Brücke hinauf, blieb oben stehen,
lehnte sich über die Brüstung und sah hinab auf die Schiffe, die sich
dicht aneinander vorbeidrängelten, die Gondeln, die den Vaporetti im Weg
waren, Kähne mit Gemüsekisten, die von wild gestikulierenden Taxifahrern
beiseite gescheucht wurden. Ein seltsamer Geräuschpegel, ganz anders als
an den Hauptverkehrsstraßen der Städte, ruhiger, lebendiger,
pulsierender. Zwei Typen erkannten sich über den Kanal hinweg, begrüßten
sich, unterhielten sich mit lauter Stimme, Menschen eilten an den Ufern
hin und her, überquerten die Brücke, drängten sich unter den Schirmen
der Restaurants und an den Anlegestellen der Vaporetti. Die Brücke war
wie ein Zentrum der Stadt, die Verbindung zwischen zwei Hälften und
gleichzeitig der Platz über dem Wasser, fast außerhalb der Stadt, ein
Ausblick, als sei das alles nicht echt, die Szene aus einem fremden
Film, ein fremdes Leben, in das einzudringen ihm nicht gelingen würde,
das ihm den Zuschauerplatz auf der Galerie, auf der Brücke genehmigte,
mehr nicht. Die Sonne brannte ihm auf das Gesicht und die Arme, aber er
wollte stehenbleiben und schauen, dem Leben zuschauen, den Touristen in
ihren kurzen Shirts und bunten Hosen, den Venezianern, die in ordentlich
gebügelter Hose mit weißem Hemd ihre Mittagspause verbrachten, die
rosarote Sportzeitung unter den Arm geklemmt hatten, mit ihrem Nachbarn
die dort gelesenen Ergebnisse debattierten. Er sah Frauen nach, die am
Ufer gingen, bestaunte ihre Figur, ihre Kleidung, überlegte welche
Errungenschaften sie in den eleganten, glänzenden Papiertaschen der
Boutiquen nach Hause trugen, weite, leichte Hosen, Dessous, neue Düfte?
Auf der anderen Seite des Kanals glaubte er die Frau mit den kurzen
roten Haaren zu erkennen, die Frau mit den langen Beinen. Sie stand vor
einem Schaufenster, blickte in eine Auslage, er konnte nicht erkennen,
was es dort zu sehen gab. Auch sie hatte mittlerweile eine der kleinen
Papierlacktaschen über der Schulter hängen. Sie drehte sich herum, ließ
den Blick über das andere Ufer schweifen, dann hinüber zur Brücke, die
Treppen hinauf. Er hatte das Gefühl, sie sehe zu ihm hin, war sich aber
sicher, daß sie ihn unter den Mengen von Leuten, die sich an der
Brüstung drängten, nicht erkennen konnte. Trotzdem glaubte er ihre
schwarzen Augen zu erkennen, deren schwarze Umrandung, was auf diese
Entfernung unmöglich war. Sie sah zu ihm hin, sie hob langsam den Arm
zum Gruß, sie winkte. Er hob ebenfalls seinen Arm, winkte zurück.
Es ist hell im Zimmer, es ist kalt im Zimmer, das Fenster ist mit
Kondenswasser beschlagen. Es ist niemand sonst im Zimmer, die Tür ist
von innen verschlossen. Er hat sich in der Nacht den Schlafanzug
übergezogen, die Decke eng um sich geschlungen. Er steht auf, tritt zum
Fenster, wischt mit der Hand das kalte Wasser von der Scheibe, sieht
hinaus. Es ist kälter geworden über Nacht, es hat etwas geschneit, noch
immer fallen leichte weiße Flocken, sie liegen auf den Hausdächern, den
vorspringenden Brüstungen, den Stegen vor dem Haus und auf dem Verdeck
der Boote. Es erscheint ihm unwirklich, als liege eine Schicht Staub auf
der alten Stadt, als sei die Stadt erstarrt. Es ist still, kein Geräusch
ist aus dem Haus zu hören, kein Boot vor dem Fenster. Er zieht sich an,
öffnet die Tür, tritt in den Flur, auch hier ist kein Geräusch zu hören,
keine Stimmen, keine Schritte, keine Musik. Vielleicht ist sie früh
gegangen, vielleicht ist er der einzige Gast. Er geht hinunter in die
Halle, die Tür zu einem größeren Raum steht offen, er blickt hinein,
sieht eine lange, alte Holztafel, Ölgemälde an den Wänden, nicht einmal
geschmacklos, die Holztäfelung, einen mit Teppichen ausgelegten
Marmorboden, einen Kamin in der Wand, davor eine Sesselgruppe. Alles ist
leer, wirkt aber nicht unbewohnt. Auf dem Tisch ist sein Frühstück
vorbereitet, der Kaffee in der Warmhaltekanne, Brötchen und Butter,
Marmelade, Parmaschinken. Nur ein einziges Gedeck auf der langen Tafel.
Auf seinem Teller liegt ein kleiner Zettel, Guten Morgen, eine schöne,
flüssig geschwungene Handschrift. Er sieht ihn an, hält ihn gegen das
Licht, überlegt, ob die feinen roten Spuren von Lippenstift stammen
könnten oder nur eine Täuschung des Lichts sind, entscheidet sich gegen
die Täuschung. Er frühstückt ausführlich, nimmt sich eine Tasse Kaffee
mit zum Sessel, greift sich die dort liegende Tageszeitung,
durchblättert sie interessiert, versucht zu erraten, was vorgefallen
sein könnte, versucht, die Bilder zu interpretieren, von Politikern,
deren Namen er kennt, ist verunsichert über das was geschehen sein
könnte, versteht nur wenig. Er greift seine warme Winterjacke, findet
den Hinterausgang des Hauses, der in einen Innenhof, um den sich einige
andere Häuser gruppieren, führt, auch hier liegt eine sehr dünne
Schneedecke. Er sieht vor der Tür ihre Fußspuren quer über den Hof auf
den niedrigen Tordurchgang zu laufen, der unter den Häusern hindurch zu
einer Gasse führt. Er sieht die schmale Spitze ihres Schuhs, die dünnen
Absätze. Folgt der Spur zum Durchgang hinaus auf die Gasse, wo der
Schnee von den vielen Füßen längst weggetreten ist, ist
orientierungslos, versucht erst gar nicht, sich Gasse und Durchgang zu
merken, zurückbringen kann ihn wieder ein Taxi über den Wasserweg, und
wendet sich nach links in die Gasse hinein, die jetzt fast leer ist. Es
hat wieder begonnen zu schneien, er weiß nicht einmal, ob das hier oft
vorkommt, aber das zarte Weiß erscheint ihm auf dem alten Pflaster
reizvoll. Keine Spuren sind auf dem frischen Schnee zu sehen, seine
Schritte sind erste Schritte und nur seine Spur ist sichtbar, wenn er
sich herumdreht. Er folgt der Gasse, die auf einen weiten Platz mündet,
umstanden von kahlen Bäumen, mit einer kleinen Kirche an der Frontseite.
Er tritt durch das offene Tor in den kalten, dunklen Innenraum der
Kirche, nur durch die bunten Fenster im Chor fällt etwas gedämpftes
Licht. Es ist eine einfache Kirche. Vor dem kleinen Seitenaltar stehen
die Halter für die Opferkerzen, er überlegt wie immer, ob er nicht eine
dieser Kerze für einen seiner speziellen Helden entzünden soll und
entscheidet sich wie immer, da er ohnehin nicht glaubt, dagegen, verläßt
die Kirche wieder. Der Platz ist leer, nur wenige Menschen sind hier
unterwegs. Er freut sich über die unzerstörte Schneedecke, tritt eine
diagonale Spur mitten über den Platz, achtet darauf, seine Füße
vollständig und in gleichmäßigem Abstand aufzusetzen. Als er das andere
Ende des Platzes erreicht hat, sich umdreht, um sein Werk zu betrachten,
sieht er eine Gruppe Kinder, die lärmend aus einem der Häuser rennen und
keinen Sinn für sein exaktes Kunstwerk aufbringen, die weiße Fläche mit
vielen kleine Schritten zertrampeln. Er wendet sich ab und geht in eine
andere Gasse hinein, folgt ihr bis zu einem Schild, das ihn nach rechts
zur Rialto-Brücke lenkt.
Auch die Stufen der Brücke sind mit Schneeresten bedeckt, die Dächer der
Buden in der Mitte der Brücke leicht überpudert. Er steigt hinauf, sieht
hinab auf den Verkehr im Kanal, das graue Wasser, die grauen Häuser, die
grauen, weiß bedeckten Schiffe. Die Sonne erscheint nur fahl in einer
etwas dünneren Stelle der grauen, tief hängenden Wolkendecke. Es riecht
nach Wasser, nach Algen, nach klarer, kalter Winterluft. Er schaut sich
um, sieht sie am Fuß der Brücke erscheinen, sie trägt einen langen,
beigen Rock, eine schwarze Jacke, die Haare offen. Sie sieht ihn, winkt
ihm zu, verschwindet hinter den Buden in der Mitte der Brücke. Er eilt
hinüber zur anderen Brüstung, will ihr dort entgegen laufen, sieht
hinab, kann sie aber unter den Menschen, die dort die Treppe
hinaufkommen nicht erkennen. Er steigt die Treppe hinunter, begegnet ihr
nicht, steht am Fuß der Treppe, sieht den Abdruck ihrer Schuhe, kurz vor
der Treppe stoppend, wendend, geht zum anderen Aufgang und sieht sie
jetzt oben stehen, lachen, ihm zuwinken. Er steigt wieder die Brücke
hinauf, sie hat sich schon in Bewegung gesetzt, als er oben ankommt,
sieht er sie am anderen Ufer in eines der Taxiboote steigen, ihm
zuwinken, lachen, hört, daß sie ihm etwas zuruft, was er nicht versteht,
sieht, wie sie winkt, er solle ihr folgen. Dann legt das Boot ab,
erreicht schnell die Mitte des Kanals, überholt ein größeres Schiff und
verschwindet aus seinem Gesichtsfeld. Er eilt die Brücke hinab, wartet,
bis ein neues Taxiboot am leeren Steg angelegt hat und gibt die Adresse
der Pension an, das Boot legt ab, bewegt sich hinaus auf den Kanal, er
setzt sich nicht in die hintere Kabine, bleibt neben dem Fahrer unter
dem Verdeck, genießt den kühlen Fahrtwind, die Schneeflocken, die an die
Scheibe fliegen. Der Fahrer beschleunigt, biegt kurz vor dem Vaporetto
in einen Nebenkanal ein, sie hören das warnende Hupen des Polizeibootes,
das ihnen entgegengekommen war, der Taxifahrer hebt entschuldigend Hände
und Schultern, beschleunigt aber unverdrossen weiter. Nach einer
verwirrenden Fahrt durch einige Kanäle erkennt er den Steg der Pension
vor sich, der im grauen Tageslicht noch verfallener aussieht als in der
vorhergehenden Nacht. Er zahlt das Taxi, springt auf den Steg. Der
Schnee ist matschig geworden, fast nicht mehr vorhanden, trotzdem meint
er die Spur ihrer Schuhe zur Haustür hin zu erkennen. Die Tür ist nur
angelehnt, er öffnet sie, tritt ein und bleibt lauschend stehen. In der
Halle ist niemand zu sehen, kein Geräusch zu hören. Dafür scheint es
ihm, als könne er aus einem der Zimmer in der oberen Etage den Klang
klassischer Musik vernehmen. Er steigt die Treppe hinauf, folgt dem
Klang durch den Flur, um eine Ecke herum, steht vor einer breitflügligen
Tür, die in ein größeres Zimmer führt, aus dem die Musik kommt.
Auch hier ist die Tür nur angelehnt, er stößt den Flügel auf, steht in
einem hellen Zimmer, dessen hohe Fenster zum Kanal hin liegen, sieht die
Wintersonne, die eine Wolkenlücke gefunden hat, durch die Scheiben
dringen, helle Lichtspiele auf dem dunklen Holzfußboden. In einer Ecke
des Raums stehen Tisch und Stühle, ein alter Schrank, ansonsten wird der
Raum beherrscht von einem in seiner Mitte aufgestellten, großen Bett mit
Baldachin, der von gedrechselten Holzsäulen getragen wird. Die Wand
hinter dem Bett ist bis oben von einem mit Büchern überladenem Regal
verdeckt, in welchem wahrscheinlich auch die Musikanlage verborgen ist.
Er tritt in den Raum, schließt die Tür, geht auf das Bett zu, dessen
weißer Vorhang sich öffnet. Sie steigt aus dem Bett, geht auf ihn zu,
hat noch immer den beigen Rock an, lang, fast bis auf den Boden, ist
barfuß, ihre weißen Füße heben sich deutlich vom dunklen Holz ab. Sie
greift hinter sich, der Rock fällt auf den Boden, geht weiter auf ihn
zu, er ist im Raum stehengeblieben, sie öffnet Knopf für Knopf ihre
weiße Bluse, die Spitzen der weißen, durchbrochenen Dessous erscheinen,
ihre kleinen festen Brüste, die weiße Haut von Schultern, Bauch, Nabel,
der Streifen schwarzer Haare über dem Bund ihres knappen Slips. Sie
sieht ihm direkt in die Augen, hebt Fuß für Fuß aus dem am Boden
liegenden Rock, geht Schritt für Schritt mit nackten, weißen Füßen auf
ihn zu, berührt mit dem Finger sein Gesicht, seine Lippen, er spürt die
Wärme der Haut, streift ihm den Mantel über die Schultern, der hinter
ihm auf den Boden fällt, rollt seinen Wollpullover hinauf, zieht ihm das
T-Shirt aus der Hose, rollt es mit dem Pullover über seine Brust,
bedeckt Bauch und Brust mit zarten Küssen, zieht ihm die Kleidungsstücke
über den Kopf. Er will sie umgreifen, umarmen, sie wehrt seine Hände ab,
stößt ihn wenige Zentimeter zurück, schiebt die Hände unter den
Hosenbund, öffnet mit einem Griff den Knopf, zieht ganz langsam den
Reißverschluß herunter, ihre Finger berühren sein steifes Glied, gehen
tiefer, ziehen die Hose herunter, berühren die Schenkelinnenseiten. Er
zieht die Füße aus den Hosenbeinen, versucht, sich dabei geschickt der
Socken zu entledigen, verliert fast das Gleichgewicht. Sie umfaßt seinen
Po, zieht seinen Slip herab, preßt sich dicht an ihn, die Hände in die
Pofalte, zieht ihn in Richtung des Bettes. Er berührt mit den Händen die
warme Haut ihres Rückens, sucht den Verschluß des BHs, findet ihn nicht,
streicht hinab zu ihrem Po, über die glatte Seide des Slips die
Pobacken, die Beine, umfaßt die Beine von hinten, läßt die Hände höher
zwischen ihren Beinen ruhen, die Finger auf und ab spielen, spürt die
Feuchtigkeit des Slips zunehmen. Sie setzt sich auf die Kante des Betts,
schiebt ihn etwas zurück, öffnet ihren BH von vorn, drückt ihre Brüste
an seine Schenkel, erkundet mit leicht geöffneten Lippen und der Spitze
ihrer feuchten Zunge alle Stellen seiner Haut, umfaßt ihn fester, er
spürt die Fingernägel in seinen Pobacken, sie zieht ihn hinunter zu sich
auf das Bett, rollt sich selbst den Slip herunter, berührt sich mit den
Fingern, steckt ihm den feuchten, salzigen Finger in den Mund. Er nimmt
die steifen Spitzen ihrer Brüste in den Mund, stößt die Zunge in ihren
Nabel, schmeckt ihre warme Haut, die weiche Haut der Schenkel, die
festen, drahtigen Haare. Sie dreht ihn auf den Rücken, legt sich auf
ihn, dreht ihn auf den Bauch, leckt mit ihrer Zunge vom Hals, den Rücken
hinab zum Po, dreht ihn auf die Seite, umarmt ihn von hinten, zeichnet
mit den Fingernägeln sanfte Spuren auf seine Haut, verreibt die klebrige
Feuchtigkeit auf seinem Bauch, legt sich wieder auf ihn, wiegt sich in
sanftem, schneller werdendem Rhythmus.
Er war über den Steg gegangen, er hatte seine Fahrkarte vorgezeigt, er
hatte das Schiff bestiegen, den Namen am Bug gelesen und sich nicht
erinnert, ob es das selbe Schiff war, mit dem er hergekommen war. Er war
auf das Deck gestiegen, hatte sich an die Reling gestellt und zugesehen,
wie immer mehr Menschen aus der Stadt herauskamen zu den verschiedenen
Anlegestegen gingen, die verschiedenen Linienschiffe betraten. Er sah
ihre von der Sonne geröteten Köpfe und Schultern, die verbrannten Beine
unter den kurzen Hosen. Die Sonne stand tief und blendete, die Stadt lag
im Gegenlicht. Er sah die Frau mit den kurzen roten Haaren, die vom
Anleger weg in die Stadt hinein ging, überlegte, ob sie ihn zu Schiff
gebracht hatte, ob sie ihm einen Kuß auf den Mund gegeben hatte, ob sie
etwas gesagt hatte in der Sprache, die er noch immer nicht verstand, die
Hand zum Gruß erhoben, sich umgedreht und zwischen den entgegenkommenden
Menschenmengen verschwunden war. Er überlegte, was er selbst getan und
gesagt hatte, ob er einfach den Steg betreten, sich nicht mehr umgesehen
hatte. War er am Mittag einfach über die Brücke in die andere Hälfte der
Stadt gegangen, dort durch einige der Straßen gewandert, hatte sich
Plätze angesehen, den Schatten von Bäumen gesucht, war in kleine
Seitengassen eingebogen, in die Höfe der Häuser, hatte sich Schaufenster
angesehen, darauf gehofft, nicht nur den üblichen Souvenirkitsch zu
finden, sich letztendlich doch nichts gekauft, war er weitergewandert,
hatte im Universitätsviertel die Studenten mit ihren Mappen gesehen,
Rast in einem Café gemacht, auf dessen schattigen Plätzen hauptsächlich
junge Menschen saßen, hatte seinen Panamahut wieder aufgesetzt, an einem
Kiosk eine deutsche Zeitung gekauft, die Holzbrücke über den Canal
Grande gesucht, war am Fuß der Brücke in ein weiteres Café eingekehrt,
um eine Flasche kühles Wasser zu trinken, in der Zeitung zu blättern,
war über die Brücke gegangen, durch andere Gassen, über andere Kanäle
hinweg wieder zum Markusplatz gelangt, sich dort wieder unter die
Arkaden gesetzt, wieder den Menschen und Tauben zugesehen, wieder
strammstehende Japanerinnen vor der grandiosen Kulisse beobachtet, war
dann quer über den Platz, vorbei am Campanile zum Ufer gegangen, hatte
den Anleger für sein Schiff gesucht, den Steg betreten, die Karte
gezeigt, das Deck betreten?
War er am Mittag oben auf der Brücke stehengeblieben, hatte gewartet,
bis die rothaarige Frau nach oben gekommen war, sich neben ihn gestellt
hatte, ihn angesehen, Hallo gesagt, seine Hand ergriffen und ihn die
Treppe hinuntergeführt und Hand in Hand mit ihm die Gassen durcheilt
hatte, die Menschen waren zur Seite ausgewichen, hatten ihnen Platz
gemacht, die Gondoliere hatten gesehen, daß sie auf kein Angebot
eingehen würden, hatte sie ihn durch den Durchgang hindurch zu dem
kleinen Kanal geführt, seine Hand nicht losgelassen, die Haustür
aufgeschlossen, ihn die Treppe hinauf geführt, dort ihre Wohnungstür
geöffnet, seine Hand noch immer nicht losgelassen, ihn in ein Zimmer
geführt, dessen hohe Fenster mit Läden verschlossen waren, die nur
wenige Lichtstreifen hindurchließen, den Raum in merkwürdige helle und
dunkle Zonen unterteilten, endlich seine Hand aus der ihren entlassen,
die Anlage angestellt und die Musik einer seiner Lieblingsgruppen laut
aufgedreht, noch etwas lauter, sich wild zu dieser Musik bewegt, ihn
mitgezogen in den Tanz, war sie mit ihm auf den Boden gesunken, hatte
ihm die Kleider ausgezogen, sich von ihm ausziehen lassen, die Träger
des Tops über die Schultern, die nackten Brüste, die schweren Schuhe von
den Füßen, den kurzen Rock über die Knie, die langen, braunen Beine
hinunter, hatten sie sich zu der wilden Musik auf dem Boden hin und her
gewälzt, geschrien, geschwitzt, sich die Haut zerkratzt, die
Flüssigkeiten vom Körper geleckt, waren nebeneinander liegengeblieben,
erschöpft eingeschlafen, bis sie von der Stille am Ende der Platte
aufgewacht waren, die Musik erneut gestartet hatten, sich erneut
ineinander verschlungen hatten, überall die Hände, überall die Münder,
auseinander gegangen, die Kleidungsstücke gesammelt, sie angezogen,
hatten sie sich danach angesehen, lange in die Augen geblickt, die Musik
war zu Ende, sich erneut ausgezogen, diesmal langsam, Stück für Stück,
sich erneut geliebt, diesmal ohne Hast, ohne Lärm, mit sanften Fingern
ihre Körper erkundet, sich geküßt und dann wieder angezogen, hatten sie
die Wohnung verlassen, das Haus, waren sie durch die Gassen über den
Platz gegangen, ohne die Menschen zu beachten, die Tauben, die
Japanerinnen, waren zum Steg gegangen, hatte sie ihn zum Schiff
gebracht, ihm einen Kuß auf den Mund gegeben, etwas gesagt in der
Sprache, die er noch immer nicht verstand, die Hand zum Gruß erhoben,
sich umgedreht und war dann zwischen den entgegenkommenden
Menschenmengen verschwunden? Und was hatte er gesagt? Hatte er eine
Vorstellung von der Stadt, war er dort gewesen? Und würde er
wiederkommen, morgen, in einem Jahr, oder im Winter? Das Schiff legte
ab, nur mühsam fand er einen der raren Plätze im Schatten, von denen aus
er noch den Blick auf die in der Abendsonne flimmernde Bucht genießen
konnte. Der Horizont lag im Dunst, die Berge hinter der Küste, die
Städte, die sich um die Stadt sammelten. Dort hinten im Dunst mußte sie
liegen. Venedig. Irgendwo.
ENDE
© 1994 by Klaus Bölling, alle Rechte vorbehalten