Stolin | Unter dem Fallout Chernobyls
Als
am 26. April 1986 ein Test im Atomkraftwerk Chernobyl außer
Kontrolle gerät, ahnt noch niemand, welche Auswirkungen dieser Unfall
auf die Welt haben wird. Der Versuch, den Reaktor manuell
herunterzufahren, misslingt, es kommt zu einer fatalen Kettenreaktion.
Bei Temperaturen von mehr als 2.000 °C schmilzt der Reaktorkern,
Wasserstoff reagiert mit Sauerstoff, der 1.000 t schwere Betondeckel
des Reaktors wird weggesprengt. Der entstehende Feuersturm trägt die
radioaktiven Partikel weit in die Atmosphäre.
Auch an den folgenden Tagen erfährt niemand etwas über die
Katastrophe. Erst am 29. April verbreiten die Medien in Deutschland
erste Berichte über die Katastrophe in der damaligen Sowjetunion. Die
Menschen in Weißrussland sind weiterhin ahnungslos, auch als es anfängt
zu regnen. Schutzmaßnahmen beginnen viel zu spät. Die Menschen in Stolin
wunderten sich über den seltsamen Niederschlag - genossen aber noch am
1. Mai die Sonne und die obligatorische Parade. Erst zwei Wochen nach
der Katastrophe wurden sie informiert.
Heute geht man davon aus, das 70% der von Chernobyl freigesetzten
Radioaktivität über Belarus abgeregnet sind. Berichte sprechen
davon, das radioaktive Wolken aktiv mit Silberjodid geimpft wurden,
bevor sie mit drehenden Winden Richtung Osten (Moskau) ziehen
konnten. Auch wenn diese Nachricht noch nicht bewiesen ist - die
Verseuchung von Belarus ist Tatsache.
Stolin liegt ca. 230 km von Tschernobyl entfernt genau in der
Zugrichtung der radioaktiven Wolke. Das Stadtgebiet ist vom Fallout
betroffen, in der Region gibt es Sperrgebiete, die auch heute nicht
bewirtschaftet werden dürfen und nicht betreten werden sollten. Am
Rand der Wälder stehen an vielen stehen Warntafeln.
10 Tage hat der Reaktor gebrannt, dabei konnte die Radioaktivität
ungehindert entweichen. Die Folgen für die betroffene Region:
Steigende Krebsraten, insbesondere Schilddrüsenkrebs, Leukämie,
geschwächtes Immunsystem, Zunahme weiterer Krankheiten wie Grauer
Star, Osteoporose und Herzerkrankungen.
Radioaktive Belastung im Kreis Stolin
Die Belastung für die Menschen wird bleiben. Die radioaktiven
Elemente dringen immer tiefer in den Boden ein, werden das
Grundwasser erreichen. Für die Menschen gibt es kaum
Schutzmöglichkeiten, wenn sie die Region nicht verlassen können. Sie
sind auf den Anbau des eigenen Gemüses angewiesen. Auch wenn
Lebensmittel kontrolliert werden - sicher sein kann niemand. Für ein
von Land- und Forstwirtschaft abhängiges Land wie Belarus ist
Chernobyl auch wirtschaftlich eine Katastrophe.
Die Belastung in Stolin resultiert vor allem aus dem recht leichten
Nukid Cäsium 137, das über weite Strecken verteilt wurde - auch bis
nach Deutschland. Cäsium 137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren.
Nach 30 Jahren hat sich die Belastung halbiert. Experten gehen davon
aus, das er st nach 10 Halbwertzeiten die Belastung durch Cäsium 137
weitgehend verschwunden ist. Das wäre im Jahr 2286.
Die staatlichen Forstbetriebe in Stolin veröffentlichen auf ihrer
Website eine Karte mit den belasteten Zonen. Belastet sind über 40%
der Forstflächen, besonders stark in der Sumpfregion um Olmany. Es
gibt Empfehlungen für Beeren- und Pilzsammler, in welchen Gebieten
sie sammeln dürfen. Die gesammelten Produkte sollen möglichst auf
Radioaktivität untersucht werden. Aber ob die im privaten Bereich
wirklich geschieht?
Belastete Forstflächen im Kreis Stolin (Klick auf die Karte öffnet größere Darstellung)
Die Katastrophe von Chernobyl ist einer der Beweggründe für die
humanitäre Hilfe unseres Vereins. Uns geht es dabei insbesondere um
die Kinder. Wir können nicht bei akuten Krankheiten oder Krebs
helfen - aber wir können mit Erholungsaufenthalten in Homberg den
Kindern helfen, deren Allgemeinzustand durch das Leben in der
Falloutzone deutlich reduziert ist. Radioaktivität ist nicht
sichtbar, man kann sie nicht riechen - trotzdem ist sie in Stolin
vorhanden. Dieses Wissen führt auch zu einer psychischen Belastung
in den betroffenen Regionen. Chernobyl ist allgegenwärtig - auch
mehr als 20 Jahre nach der Katastrophe.
Für uns, die vom Fallout kaum betroffen waren und trotzdem für lange
Zeit bedenkliche Strahlungswerte in den Lebensmitteln hatten (zum
Glück hauptsächlich durch radioaktive Stoffe mit einer kurzen
Halbwertzeit, die auf Ewigkeit strahlenden Isotope sind z.B. in
Belarus heruntergekommen), sollte dies eine deutliche Mahnung sein,
nicht länger strahlenden Atommüll durchs Land zu karren und den
Atomausstieg auch tatsächlich umzusetzen. Auf Chernobyl folgte
Fukushima - und das werden nicht die letzten Zwischenfälle in der
Atomindustrie gewesen sein.
Belarus selbst hat diese Lehre als Staat nicht gezogen. Mit
russischer Hilfe wird inzwischen an einem eigenen
Atomkraftwerk gebaut.
Das öffentliche Projekt PRIPYAT.COM wurde im Jahre 2004 von
ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt Pripjat als
inoffizielle Website gegründet. Die Stadt steht für uns als
wichtiges Symbol für zukünftige Generationen und deren
„Hilflosigkeit“. Aus diesem Grund haben wir dafür gekämpft, dass „Pripjat“
als Museum anerkannt und auch als Denkmal, einer der größten
Katastrophen in der Menschheitsgeschichte, geschützt wird.
Eine interessante Website mit sehr vielen Informationen und
Artikeln:
pripyat.com/de
Die
belarussische Autorin
Swetlana Alexijewitsch hat eines der wichtigsten Bücher
über Chernobyl geschrieben. Zusammengesellt aus Gesprächen mit
Zeitzeugen zeichnet es ein bedrückendes Bild der Welt nach Chernobyl:
Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.
Sewtlana Alexijewitsch erhält 2013 den Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels eine verdiente Auszeichnung für eine Autorin, deren
Bücher in ihrem Heimatland nicht publiziert werden. 2015 wird sie
mit dem Literatur-Nobelpreis geehrt. eine hohe Auszeichnung - auch
für die belarussische Kultur!
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