Stolin | Ein Städtchen in Palessje
Nachdem der kalte Krieg beendet und das Eis zwischen Ost und West gebrochen war, ging auch Homberg (Efze) auf die Suche nach einer Partnerstadt im Osten - schließlich sollten die Chancen der Öffnung genutzt und mit Leben gefüllt werden. Gesucht wurde eine Stadt, die in der Größe vergleichbar ist, von Homberg aus noch relativ gut erreichbar ist und der wir mit unserer Unterstützung helfen konnten. Die Wahl fiel schließlich auf Stolin in Belarus.
Gegenseitige Achtung,
Vertrauen und Verständnis
'Gegenseitige Achtung, Vertrauen und
Verständnis mögen durch Begegnungen unserer Mitbürgerinnen und
Mitbürger, vor allem der Jugend, begründet und gefestigt werden. Sie
tragen dazu bei, dass stets Freiheit, Toleranz und Friede zwischen
unseren Völkern herrsche' - so steht es in der 1993 von den beiden
Bürgermeistern unterzeichneten Partnerschaftsurkunde. Beschlossen
wurde die Partnerschaft schon am 3. Oktober 1992.
Stolin und
Homberg sind etwa gleich groß. In der Stadt und den umliegenden
Dörfern leben etwa 12.500 Menschen. Im Kreis Stolin sind es 87.000.
Der Kreis gehört zum Bezirk Brest. Der Storch ist das Wappentier
Stolins und brütet überall in der sumpfigen Landschaft.
Wirtschaftlich ist die Region vor allem landwirtschaftlich geprägt.
Es gibt in der Umgebung von Stolin mehrere Kolchosen. Eine der
größten, die Kolchose Fedory liegt 30 km von Stolin entfernt und ist
eine Art Vorzeigebetrieb. Arbeitsplätze sind in Stolin knapp, es
gibt kaum Industrie.
Gurken, Milch und Holz
Die Milch der Region wird in Stolin zu Käse verarbeitet, die
Molkerei gehört zu einem privaten belarussischen Konzern. Es gibt eine Wodka-Destillerie, die zur Kolchose in Mankovichi
gehört, eine Großbäckerei und
eine Werk für Küchenmöbel. Außerdem ist in der Nähe eine Fabrik für
Gemüsekonserven. Viele Menschen, insbesondere in den Dörfern haben
große, teilweise beheizbare Gewächshäuser aus Plastikplanen, in
denen sie Gurken und Tomaten anbauen, mit denen sie handeln. Ein
weiterer wirtschaftlicher Schwerpunkt ist die Forstwirtschaft und die Verarbeitung
des Holzes.
In Stolin ist die Kreisverwaltung, es gibt eine zentrale Feuerwehr,
die als Katastrophenschutz militärisch organisiert ist und etliche
Schulen (Berufsschule, Gymnasium, Fachoberschule für Agrar- und
Rechtsabschlüsse). Fünf städtische
Kindergärten bieten Platz für ca. 1000 Kinder die ganztags betreut
werden.
Stolin verfügt über ein großes Krankenhaus (ca. 400
Betten), das nach der Reaktorkatastrophe von Chernobyl erweitert und
modernisiert wurde. Ein weiterer Neubau konnte nach dem
Zusammenbruch der UdSSR nicht fortgesetzt werden und wurde
inzwischen abgebrochen.
Eine eigenständige
Stadtverwaltung gibt es nicht, zentrales Verwaltungsorgan ist die
Kreisverwaltung. Demokratische Parlamentsstrukturen gibt es
ebenfalls nicht. Die Bürokratie ist recht ausgeprägt, was auch die
Hilfstransporte nicht gerade erleichtert. Die Jagd nach den
erforderlichen Stempeln auf den Papieren ist immer wieder eine neue
Herausforderung, die durch ständig wechselnde Gesetze nicht
erleichtert wird.
Eine Stadt in Palessje, dem größten Sumpfgebiet
Europas
Stolin liegt etwa 1.500 km von Homberg entfernt. Das
kleine Städtchen ist umgeben von Flüssen und Seen inmitten des
Palessje (Polesien), dem mit 90.000 km² größten Sumpfgebiet Europas,
das nördlich von Stolin vom Pripjat, einem der großen Nebenflüsse
des Dnjepr durchflossen wird. Stolin selbst liegt am Fluss Goryn,
der wiederum in den Pripjat mündet.
Erstmals erwähnt wird die
Stadt Stolin 1555. Die Geschichte der Stadt ist vor allem jüdisch
geprägt, die Region gehört zu den Kerngebieten der ostjüdischen
Kultur. Stolin liegt infrastrukturell günstig an der Kreuzung von
drei wichtigen Straßen, die nordwärts nach Pinsk, Richtung Süden
nach (die ukrainische Grenze ist nur 15 km entfernt) und
Richtung Osten nach David-Horodok führen.
Die Region war Teil
eines polnisch-litauischen Doppelstaats, von November 1917 bis
Februar 1918 wurde sie von Sowjets besetzt, anschließend von der
deutschen Wehrmacht. Nach dem Ersten Weltkrieg war das Brester
Gebiet gemäß dem Vertrag von Riga polnisches Staatsgebiet. Nach dem
Hitler-Stalin-Pakt gehörte es dann ab November 1939 zur Sowjetunion.
Die jüdische Vergangenheit - ermordet von SS und Wehrmacht
Vom
August 1941 bis zum 9. Juli 1944 besetzt die deutsche Wehrmacht
Stolin. Weißrussland gehört zu den Regionen, die im zweiten
Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht am Schlimmsten verwüstet
wurden. Auch vom einstigen Stolin ist heute wenig übrig, das
ehemalige Zentrum der Stadt mit seinem jüdischen Viertel ist
weitgehend verschwunden.
Stolin hatte eine lebendige jüdische Gemeinde, die die
Bevölkerungs-mehrheit stellte. Heute ist dieser Teil der Geschichte verdrängt, nur die Ruine der Synagoge erinnert stumm an
die Geschichte und den Holocaust. Etwas entfernt von der Stadt liegt
im Wald bei Stasino ein Massengrab. Am 11. September 1942 wurden
hier mehr als 7.000 Menschen aus dem jüdischen Ghetto von Stolin
ermordet.
Im Gebiet der Sümpfe fanden heftige Kämpfe mit
Partisanen statt, unzählige Menschen sind dem Krieg zum Opfer
gefallen, Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht. Vor
dem Hintergrund der Geschichte wird unsere heutige Partnerschaft
umso wertvoller. Stolin selbst wurde von der Wehrmacht verlassen,
kurz bevor die Rote Armee die Stadt erreichte. Die deutschen Truppen
hatten Angst, dass es der Roten Armee gelingt, sie einzukesseln.
Einige
der Holzhäuser in der Stadt stammen aus der Zeit vor dem Krieg, aber
die Stadt hat ihr Gesicht verändert. Ein Foto aus dem Jahr 1924 zeigt, dass die
Holzhäuser damals oft größer waren, als die heutige, manchmal
ärmliche Bebauung der Stadt (Dank an Murray Nosanchuk, der mir das
Bild aus Kanada gemailt hat).
Chernobyl verändert alles
Stolin
liegt in der Falloutzone der Reaktorkatastrophe von Chernobyl. Hier
sind die ersten radioaktiven Niederschläge
heruntergekommen und haben das Land verseucht. Während
bei uns die Kinder schon nicht mehr das Haus verlassen
durften und das Gemüse aus den Gärten vernichtet wurde,
waren die Menschen hier noch nicht informiert und
standen im Freien bei den üblichen Feiern zum 1. Mai.
Die Folgen der Katastrophe sind insbesondere für die
Kinder schlimm, der Konstitution und Immunsystem oftmals
geschwächt sind. Die radioaktive Verseuchung der Region
ist kartiert, es gibt Flächen, vor deren Betreten
gewarnt wird. Die Ernte wird angeblich untersucht - aber
was ist mit all den Früchten und dem Gemüse aus den
privaten Gärten?
Die Katastrophe hat Stolin verändert. Neben den
negativen Folgen hat sie Türen geöffnet und kontakte
geschaffen - auch zu uns nach Homberg. Auch andere
Städte haben Kontakt nach Stolin, ermöglichen Kindern
Erholungsaufenthalte. Das Krankenhaus wurde aus den
Mitteln des Chernobylfonds gebaut. Die Menschen haben
gelernt, mit den Auswirkungen der Katastrophe zu leben,
sie müssen bleiben, während wir oftmals mit einem
mulmigen Gefühl wieder nach Hause fahren. Welchen Preis
sie dafür zahlen, wird erst die Zukunft zeigen.
Die Folgen der
Reaktorkatastrophe sind für die agrarwirtschaftlich geprägte Region auch ein großes
wirtschaftliches Handicap.
Größere Kartenansicht
Stolin blüht | Impressionen einer bunten Stadt
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
zur Ansicht auf die kleinen Fotos klicken |
Stolin wird bunter und lebendiger
Trotz aller Schwierigkeiten hat sich Stolin in den letzten Jahren
entwickelt. Die Stadt ist farbiger und lebendiger geworden, Straßen
wurden geteert, Bürgersteige gepflastert, neue Häuser gebaut und
alte renoviert, viele kleine Privatgeschäfte haben eröffnet und
bieten ein breites Warenspektrum an. Stolin ist geschäftiger
geworden.
Die Freunde können nicht mehr einfach die Arbeit verlassen, um mit
uns zu trinken und zu feiern. Das geht erst nach Feierabend. Die
Freunde kennen inzwischen das Wort Stress. Auch in dieser entlegenen
Region in den Sümpfen des Pripjat ist die Zeit nicht stehen
geblieben. Aber es ist unsicher, was sie den Freunden bringen wird.
Welche Chancen hat ein Land ohne Bodenschätze?
Welche Chancen hat eine Agrar-Region im Falloutgebiet Chernobyls?
Welche Industrie soll sich hier ansiedeln? Gibt es Chancen für
Tourismus im Naturschutzgebiet der Pripjat-Sümpfe?
Wirkliche
Perspektiven für diese Region zu entwickeln wird sehr schwer
bleiben. Aber die Stoliner nehmen diese Herausforderung an.
|