Das große Morden

Weißrussland hat unter der SS und der Wehrmacht mehr gelitten als jede andere Sowjetrepublik. Weil es den Deutschen an Lebensmitteln fehlte, wurde die Vernichtung beschleunigt.

Es waren Männer wie Walter Mattner, die Weißrussland in ein Schlachthaus verwandelten. Der Wiener Polizeisekretär war im Oktober 1941 dabei, als in Mogiljow 2273 Juden erschossen wurden. Hinterher schrieb er an seine Frau: "Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert. Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Eingedenk dessen, dass ich auch zwei Säuglinge daheim habe, mit denen es diese Horden genauso, wenn nicht zehnmal ärger machen würden."

Drei Jahre lang stand Weißrussland, das knapp so groß ist wie die alte Bundesrepublik, unter deutscher Verwaltung. Als die Rote Armee die Wehrmacht 1944 über die Grenze zurückdrängte, waren ganze Regionen entvölkert. Von ungefähr zehn Millionen Einwohnern lebten etwa 1,7 Millionen nicht mehr. Kein Land hat unter Hitlers Truppen so gelitten wie Weißrussland.

In der umstrittenen Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung spielte Weißrussland eine herausragende Rolle. Die Fotos aus Minsk, Lesnaja oder Witebsk zeigten brennende Dörfer, Soldaten vor Leichenbergen, Massengräber sowjetischer Kriegsgefangener. Ausstellungsleiter Hannes Heer sprach von "killing fields", von "Mordlust und Sadismus, Gefühlskälte und sexuellen Perversionen", freigesetzt durch die Befehle der Kommandeure. Deutsche Besatzungspolitik - ein Fall für Psychopathologen? Christian Gerlach gibt eine andere Antwort. Der Berliner Historiker hat fünf Jahre lang in weißrussischen und deutschen Archiven recherchiert, um die Systematik des Völkermordes aufzudecken. Das Ergebnis ist eine Chronik des Grauens.

Der rassistische Wahn der Nazis war zwar die Voraussetzung für das große Morden. Das Tempo des Todes aber bestimmte zumeist ein erbarmungsloser wirtschaftlicher Pragmatismus: Mangel an Fleisch und Brot, an Wohnungen oder Arbeit entschied über das Schicksal von Hunderttausenden, auch der Weißrussen jüdischen Glaubens.

Der Holocaust unterlag in Weißrussland derselben Logik wie die Besatzungspolitik. Fehlte es an Lebensmitteln oder Unterkünften, wurde die Vernichtung forciert, die Leute wurden erschossen. Alle Instanzen machten mit bei der Dezimierung der Bevölkerung: SS und Polizei, Arbeitsverwaltung und Landwirtschaftsbehörden, Wirtschaftsbetriebe und Wehrmachtseinheiten. Hitlers Mitarbeiter hatten den Massentod in Weißrussland schon vor dem Angriff auf die Sowjetunion vorgesehen. Der Staatssekretär im Reichsemährungsministerium, Herbert Backe, plante die Ausplünderung aller sowjetischen Gebiete, die einen Überschuss an Lebensmitteln produzierten. In anderen Regionen, wie Weißrussland, sollten die Menschen verhungern. Da müssten, prognostizierte Hitler, "Millionen sterben".

In Weißrussland stand 1941 die Heeresgruppe Mitte mit 1,6 Millionen Soldaten. Am 4. September 1941 erklärte Backe, er könne nicht ausreichend Getreide liefern, ohne die Rationen daheim im Reich zu senken. Da befahl Hitlers Wirtschaftschef Hermann Göring "rücksichtslose Sparmaßnahmen" und prophezeite "das größte Sterben seit dem Dreißigjährigen Krieg.Die ersten Opfer waren sowjetische Kriegsgefangene. Eduard Wagner, Generalquartiermeister des Heeres, senkte am 21. Oktober 1941 die Rationen. Den Generälen an der Ostfront erklärte er "Nicht arbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern." In Weißrussland starben 700.000 Gefangene. Im Stammlager 324 erschossen Landser einmal pro Woche alle Kranken; in Stolbzy waren plötzlich alle Gefangenen, die an Erfrierungen dritten Grades litten, verschwunden.

Wehrmachtssoldaten haben nach Berechnungen Gerlachs in Weißrussland mehr Gefangene erschossen als Sicherheitspolizei und SS. Gegen Kriegsende wollte das Oberkommando der Heeresgruppe Mitte die Verbrechen vertuschen und erwog, die Leichen aus den Massengräbem herauszuholen und zu verbrennen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Die Heeresgruppe Mitte sollte sich "aus dem Land" versorgen. Generalquartiermeister Wagner schränkte 1942 den Nachschub ein und forderte die Soldaten auf, "sich das Fleisch selbst zu beschaffen". Wehrmacht, Polizei und SS, das belegt der Historiker Gerlach, führten den Kampf gegen die Partisanen fortan auch nach "agrarwirtschaftlichen Kriterien". Die so genannten Kreislandwirte und Landwirtschaftsführer der deutschen Verwaltung, meist Bauern aus dem Reich, die in Weißrussland die Ernte requirieren sollten, trafen die Entscheidung darüber, welche Dörfer genügend Erträge ablieferten. Die anderen galten als "bandenverseucht" und wurden abgebrannt, die Einwohner wurden verschleppt oder ermordet, die Höfe geplündert.

Der Partisanenkrieg kostete zunächst besonders viele Weißrussen das Leben. Hitler glaubte an den schnellen Endsieg, für Widerstand leistende Weißrussen war in seinem Reich kein Platz. Doch 1942/43 wurden die Arbeitskräfte knapp; der Raub von Männern wurde in manchen Gebieten zum Hauptzweck der Partisanenbekämpfung. Bei den größten Operationen deportierten die Deutschen insgesamt mindestens 100.000 Menschen - für Sklavenarbeit daheim im Reich.

Die Ermordung der weißrussischen Juden hatte zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen. Nach einer Tagung mit Gebietskommissaren befahl der Kommandeur der Sicherheitspolizei, Karl Pütz, "die Aktionen innerhalb 5 Wochen" zu beenden. Es wurde eine nur mittelmäßige Ernte erwartet; Menschen, die aus Sicht der Nazis unnütze Esser waren, sollten vorher getötet werden. Die Judenvernichtung begann im Osten Weißrusslands in den Städten. Das hatte wirtschaftliche Gründe: Minsk, Witebsk oder Gomel waren zerstört, die Arbeitslosigkeit war hoch, es fehlte an Lebensmitteln. Der Gebietskommissar von Slonim, Gerhard Erren, jammerte nach seiner Ankunft, die Stadt sei übervölkert, die Wohnverhältnisse seien "katastrophal". Die Abteilung Arbeit sortierte jüdische Einwohner aus, die sie für unentbehrliche Arbeitskräfte hielt. Alle anderen wurden zusammengetrieben. Soldaten des Infanterieregiments 727, Sicherheitspolizisten und litauische Kollaborateure, die sich vorher betranken, hielten mit Maschinengewehren in die Menge. Als ungefähr 10.000 Menschen tot waren, brach Erren die Aktion ab; sie habe "fühlbare Abhilfe" geschaffen.

Nach dem Ende des Krieges schoben viele Täter die Verantwortung für ihre Verbrechen auf höhere Instanzen ab. Auch Gerlach geht von Befehlen des "Führers" zum Holocaust aus, aber er weist darauf hin, dass die Instanzen vor Ort von sich aus auf Vollzug drängten. Der Minsker Gestapochef Georg Heuser erklärte 1966 der Hamburger Staatsanwaltschaft, "die Zivilverwaltung hat selbst ein Interesse daran gehabt, die Zahl der Juden so klein wie möglich zu halten". Die Zivilverwaltung war für die Versorgung des Ghettos zuständig. Der Handlungsspielraum der Männer in Weißrussland war beachtlich. Die 707. Infanteriedivision hatte den Auftrag, im Generalkommissariat Weißruthenien alle Einwohner jüdischen Glaubens aus den Dörfern herauszuholen; ausdrücklich stellte General Gustav Freiherr von Bechtolsheim, der für zahlreiche Massaker verantwortlich war, seinen Untergebenen frei, die Menschen "zu erledigen oder in Ghettos an einzelnen größeren Orten" zusammenzubringen. Bei der Partisanenbekämpfung durften die Dörfer nur dann abgefackelt werden, wenn der Gebietskommissar ausdrücklich zustimmte. In Stolbzy entschied ein Gendarmeriepostenführer namens Willi Schultz ohne weitere Anweisung, Massenexekutionen durchzuführen.

Zur Verantwortung wurden nach 1945 nur wenige gezogen. Heinz Rudolph, Leiter der Hauptabteilung Wirtschaft im Generalkommissariat Weißruthenien, konnte unbehelligt als Sozialminister in Niedersachsen wirken. Den Einsatz in Weißrussland hatte er als willkommene Abwechslung empfunden. "Es schadet uns Wirtschaftlern bestimmt nichts", schrieb er 1943 einem Freund, "wenn wir einmal den Federhalter mit der Maschinenpistole vertauschen."

KLAUS WIEGREFE

Spiegel Nr. 50 vom 13.12.99


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