Emil Nolde - die Farben Frieslands

Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Maler
Damen der Berliner Demimonde und stürmisch aufgewühlte Herbstmeere, seltsame Dämonen, schräge Geister und tiefchristliche Tafelgemälde, Faszination für die archaischen Aspekte des Faschismus und geächteter, später mit Malverbot bedachter Künstler – der am 7. August 1867 als Emil Hansen in Nolde nahe Tondern geborene Maler, der sich 1902 nach seinem Heimatort umbenannte, ist nicht einfach zu fassen. Walter Jens spricht in seinem Festvortrag zum 100. Geburtstag Noldes vom „Janusgesicht des großen Malers“ (I.).

Noldes künstlerische Entwicklung fällt in die Phase starker politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen von der Jahrhundertwende über den ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik hin zum zweiten Weltkrieg. Nicht nur die gesellschaftlichen Systeme unterlagen einem heftigen Wandel, der im Untergang zweier Weltkriege endete, auch die künstlerischen Wertsysteme änderten sich radikal. Nicht allein Fragen von Harmonie oder Schönheit standen jetzt im Vordergrund, die Autonomie des Künstlers und seines Schaffens gewannen an Bedeutung – eine für Nolde zentrale Neudefinition künstlerischer Selbstbestimmung. Er fasste ‚den Künstler’ gleichsam als den anderen, autonomen Teil von sich selbst als Mensch auf, als den Teil der instinktiv und weitgehend unbeeinflusst vom gesellschaftlichen und sozialen Überbau den richtigen künstlerischen Weg einschlägt. Eine radikale Haltung, die den Einfluss der Außenwelt auf die eigene künstlerische Welt negiert, diese in ihrer Überhöhung aber auch leicht in die Nähe von Sektierertum oder zumindest Einsamkeit führt. Auch in dieser scheinbaren Spaltung von Mensch und Künstler spiegelt sich das Janusköpfige zweier Sichtweisen auf die Außenwelt, die doch untrennbar miteinander verbunden sind. Es ist also keine Spaltung im Sinne des Zerfalls, sondern eine bipolare Einheit aus der eine starke Spannung resultiert, welcher Emil Nolde künstlerisch Ausdruck verleihen will.

„Malen ist malen“ – diese in ihrer radikalen Reduktion den Kern seiner ‚Philosophie‘ treffende These Noldes aus einem Brief an seinen Freund Hans Fehr 1929 (II.) zeigt seine Distanz zu jeder kunsttheoretischen oder kunstphilosophischen Interpretation seines Schaffens. Er verabschiedet sich aus den Kreisen einer akademischen, den klassischen Stilen und Theorien verpflichteten Malerei nicht, um neue Theorien zu etablieren, sondern um den Maler vom Ballast dieser Theorien und Stile zu befreien und damit die Grenze zum eigentlichen Malen als intuitivem Akt zu überschreiten. Malen ist malen und macht damit jegliche weitere Debatte überflüssig – zumindest für den Maler.

Auch wenn Nolde seine Kunst als unmittelbare Äußerung des Instinkts und damit weitgehend unbeeinflusst von geplantem Wollen und Nachdenken sieht, so stimmt dies natürlich nur bedingt. Nolde plante viele seiner Bilder sorgfältig, vielen seiner Ölgemälde sind Aquarellskizzen vorausgegangen, die er oft erst Jahre später verwirklichte. Und natürlich sind die Anordnung der Personen oder die Perspektive der Bilder geplant, auch wenn er selbst rational-mathematische Aspekte in der Malerei negieren würde - womit er andererseits recht hat, denn sie stehen niemals im Vordergrund. Letztlich beherrschend bleibt das Spiel der Farben. Aber sieht man gerade die Werke, in denen bewusst Gegensätzliches miteinander konfrontiert wird, Statuen neben Blumen gestellt werden, konstruierte Stillleben mit Pflanzen und Masken oder auch die Konfrontation von Menschen, die paarweise in vielen seiner Werke auftauchen, so wird doch klar, dass es nicht allein der Instinkt war, der sein Werk dominierte, sondern ein künstlerischer Geist, der alle Aspekte eines Kunstwerks einbezog.

Bezeichnend ist sicherlich, dass wichtige Stationen für Noldes künstlerische und menschliche Entwicklung untrennbar mit dem Meer verbunden sind. Zwei dieser Stationen sind Lildstrand an der Nordküste Jütlands (1901) und die Hallig Hooge (1919). Hier erlebt Nolde die Kräfte der Natur und gleichsam die Polarität und das Verwischen der Grenzen. Land und Meer, Meer und Himmel - es kommt zu ständigem Wechsel, zur Vermischung, klare Grenzziehungen sind nicht möglich. Das Erlebnis der Natur als Urkraft in der Beziehung zu den Menschen spiegelt sich in Noldes Kunst unmittelbar wieder, er erlebt neue Harmonien, die mit den alten Schönheitsbegriffen und ihrer Anwendung in der Kunst nichts mehr gemein haben. Betrachtet man Noldes Werke, insbesondere die Aquarelle, die ihm immer auch als Vorlage für die Ölgemälde dienten, darüber hinaus aber ein vielleicht sogar von ihm selbst unterschätztes künstlerisches Eigenleben führen, wird dies deutlich. Nicht mehr die Form ist bestimmend, sondern die Farbe als eigenständiger Wert. „Farbe ist Kraft. Farbe ist Leben. Nur starke Harmonien sind gewichtig“ (IV). Nolde bekennt sich zum Eigenleben der Farbe, die nicht mehr Transport für den Gehalt des Bildes, sondern dessen eigentlicher Inhalt wird. Gerade in den Aquarellen fließen die Farben frei über jede Form hinaus, die Grenzverwischung wird deutlich, Himmel, Meer, Mensch sind nicht durch eine klare Linienführung voneinander getrennt. Die Farbe dient nicht der Illustration, sie ist die Substanz des Bildes, eine Auffassung, die sicherlich selbst im progressiven Kreis der Expressionisten radikal war. Damit erlangt natürlich auch der eigentliche Akt des Malens eine neue Bedeutung, die Verwischung der Grenzen geht weiter „bis Farben, Pinsel, Bild und Maler alles eins zu sein scheinen“ (III.).

Weit mehr als in den Ölbildern möglich kann sich Noldes Vorstellung einer emotional bestimmten Kunst in den Aquarellen entfalten, hier entwickelt er eine eigene Bildsprache, entdeckt Möglichkeiten der Mitarbeit der Natur an seiner Kunst, lässt Aquarelle bewusst im Schnee liegen oder malt bei Frost. Insbesondere gelingt es ihm aber, das Verhältnis der Farben zu den verschiedenen Papieren herauszuarbeiten und in die Gestaltung seiner Bilder einzubeziehen. Aber selbst wenn die Farben ihre Form verlassen und ein eigenes Leben auf dem Papier entwickeln, geht der Maler Nolde nicht den Schritt zu einer wirklich formlosen, abstrakten Kunst, die Farben formen wieder neue gegenständliche Bilder, Linien und Abgrenzungen, die Nolde mit wenigen Pinselstrichen auf dem trockenen Papier unterstreicht und betont.

Die Farben Frieslands bestimmen viele der Aquarelle Noldes, die friesische Landschaft ist ein zentrales Thema - und natürlich das Meer. Für beide Themen scheint das Aquarell das adäquate künstlerische Ausdrucksmittel, die Freiheit und Beweglichkeit der Farbverläufe, das Ineinanderfließen und sich in Randbildung abgrenzende - wer das Spiel der Wolken über der flachen friesischen Landschaft beobachtet, wer sieht, wie sich von der untergehenden Sonne leuchtend orange gefärbte Wolken vor einen tief violetten Himmel schieben, erkennt, dass die Farben Frieslands die Farben von Noldes Aquarellen sind. Die Landschaft, bestimmt durch das Wasser, und die Bilder aus fließenden Wasserfarben bilden eine starke künstlerische Beziehung. Den Höhepunkt findet Noldes Aquarellkunst - neben den 1930/31 entstandenen großformatigen ‘Phantasien’ - in der verdichteten Kunst der unter dem starkem äußeren Druck des Malverbot entstandenen etwa 1300 ungemalten Bildern auf kleinstem Format, die Martin Urban „eine Krönung und Zusammenfassung seines Werkes“ (IV.) nennt.

Dort wo die Grenzen verschwinden und überschritten werden, droht unmittelbar Gefahr, der gewonnene Freiraum kann zur Bedrohung werden, die gewonnene schöpferische Kraft in erschöpften Wahnsinn münden - Grenzerfahrungen, die auch Nolde machen musste. Ausdruck findet diese Bedrohung wiederum in Noldes Kunst, in den mystischen Bildern und Phantasien, die neben ihrer unmittelbaren Kraft oft eine tiefe, dunkle Bedrohlichkeit ausstrahlen. Und wieder sind es die Stationen unmittelbar am Meer, in Lildstrand und auf Hooge, die für Nolde zu Orten der Erfahrung mit Grenzsituationen und Visionen werden, die zu phantastisch-grotesken Bildern führen.

Mystik, Instinkt, Ursprünglichkeit und das Erleben der eigenen Existenz und künstlerischen Entwicklung als stetigen Kampf mit sich selbst, der Natur und der Gesellschaft - einen Teil seiner autobiografischen Schriften nennt Nolde ‘Jahre der Kämpfe’ -, der Gegensatz seiner instinktiven, ursprünglichen Kunstauffassung zu einem intellektuellen Kunstverständnis, der Gegensatz zwischen Instinkt und Verstand sind für Nolde bestimmend. Auch hier sieht er eine Polarität, die es künstlerisch zu fassen gilt. Hierher rührt sein Interesse für die Natur und für Naturvölker, die nach seiner Auffassung weit instinktbestimmter leben als die ‘zivilisierten’ Menschen. Aus dieser Weltsicht und Begrifflichkeit rührt aber auch eine Faszination für die aufkommenden Ideen des Faschismus mit seiner Intellektualismusfeindlichkeit und einer Vorliebe für Begriffe mit der Vorsilbe ‘Ur-’, der auch Nolde in seinen Texten frönt.

Nolde fühlte sich tief mit seiner Heimat verwurzelt, mit dem Volk sowohl in der deutsch-nationalen als auch in der gesellschaftlichen Bedeutung als einfaches, bäuerliches Volk verbunden - und übersah dabei, wie weit er sich mit seiner radikalen Kunstauffassung und seinem Schaffen vom Kunstbegriff gerade dieses Volkes entfernte. Auch hier manifestiert sich die Polarität zwischen dem Künstler und dem Menschen - auf der einen Seite steht politisch naiv und tief verankert in der Bodenständigkeit seiner Heimat der Mensch Nolde, auf der anderen Seite der visionäre, die Freiheit der Kunst erobernde radikale Künstler. In Seebüll findet diese Polarität ihren Ausdruck - das moderne Ateliergebäude nach eigenen Entwürfen steht voll im Trend der Moderne, den benachbarten Seebüllhof erwirbt Nolde um ihn in seiner Ursprünglichkeit zu erhalten.

Vielleicht ist der Gegensatz zwischen Instinkt und Intellekt, auf den Nolde in seinen Notizen soviel Wert legt, ja auch auf ihn selbst anwendbar. Steht er nicht mit vielen seiner Äußerungen und Notizen - also mit dem intellektuellen Aspekten seiner Arbeit - in krassem Gegensatz zu den ‘instinktiven’ Äußerungen in seiner Kunst? Zumal in den Notizen immer wieder Widersprüche auftauchen. Hat Nolde seine eigene Kunst überhaupt richtig eingeschätzt und sie nicht mit ganz anderen Augen gesehen, als seine Umwelt? Nolde begriff seine Malerei als urdeutsche Kunst - und stand damit in der Rezeption durch die Zeitgenossen, insbesondere die gleichgeschaltete Nazikultur, recht einsam da. Gehört auch Nolde zu jenen, die ihre inneren Zweifel und Verletzlichkeiten hinter starken Worten kaschieren wollen? Seinen abfälligen Äußerungen gegen alles undeutsche, seinen Tiraden gegen die Großstadt - die er dann jedoch in solch faszinierenden Bildern und mit großer Neugier darstellt, dass die Bilder die Worte Lügen strafen – immer wieder deutsch-nationales, fremdenfeindliches, faschistisches Getöse in seinen Worten, und dagegen diese Welten von den zwischen Monumentalität und biederem Kitsch angesiedelten aber geduldeten Kunstwerken entfernten Werke Noldes: das Janusgesicht des großen Malers. Hatte der bäuerliche Friese einfach Angst vor der eigenen Faszination für das Fremde, für die verwirrende, abstoßende, kranke und doch so verführerisch glitzernde Stadt Berlin? Gegensätze, Grenzüberschreitungen, die ihm malerisch mit traumwandlerischer Sicherheit und großer Konsequenz gelangen, konnte er intellektuell nicht nachvollziehen, psychisch nicht realisieren. Und so haben ihn die Nazis fatalerweise besser verstanden als er sich selbst und die Gefährdung erkannt, die von seiner Kunst für ihr Weltbild ausging. Sie hängten ihn in die Ausstellung der ‘entarteten Kunst’ - und retteten, aus der Sicht der Nachgeborenen, damit seinen künstlerischen Ruf und Wert. Sie belegten ihn mit Malverbot - und er schuf in den ungemalten Bildern das Gegenbild zur sogenannten deutschen Kunst mit ihrer romantisierend-heroischen Attitüde.

Als Künstler hat Nolde alle Grenzen überschritten, sich mit rücksichtslosem Individualismus über Moden und gesellschaftliche Konventionen hinweggesetzt und dabei einen eigenen Entdeckerdrang entwickelt. Weder auf seiner Reise in die Südsee noch bei seinen Bildern aus dem Berliner Theaterleben ging es ihm um eine romantisierende Aneignung dieser fremden Welten, er wollte sie nicht idealisierend abbilden, sondern mit künstlerischen Mitteln entdecken, wobei ihm seine eigene Fremdheit stets bewusst war. Die Anpassungsmechanismen der entstehenden Massengesellschaft waren ihm fremd und verhasst, sein künstlerischer Weg ein Akt der Befreiung, der für die zeitgenössischen Kritiker oftmals eine unverständliche Zumutung war. Auf der Suche nach der Ursprünglichkeit seiner Kunst überschritt er die Grenzen weit radikaler als seine expressionistischen Zeitgenossen und fand daher in deren Kreisen und Vereinigungen keine Heimat und wenig Verständnis. Trotzdem verlief seine künstlerische Entwicklung natürlich im Kontext der zeitgenössischen Entwicklung des Expressionismus, wenn auch mit den typisch Noldeschen Zügen. So blieb sein künstlerischer Weg ein einsamer Weg  - auch wenn die damalige Radikalität seines künstlerischen Ausdrucks heute, angesichts der Aufnahme seiner Bilder in unendlich viele Kalender - oft unter Einengung seines Spektrums auf die Blumenbilder – und einer Kunst, die seither alle noch verbliebenen Grenzen überwunden hat, kaum mehr nachzuvollziehen ist.

Vielleicht sind es ja gerade die Erfahrungen in diesem Land zwischen Himmel und Meer, stets selbst vom Untergang bedroht, in dem klare Zuordnungen oftmals nicht mehr möglich sind, die den Menschen und Maler Nolde geprägt haben. Denn auch wer heute am Deich vor dem Land steht und hinausstarrt in Wind und Wellen ohne den Horizont ausmachen zu können, macht die Erfahrung, die ‘Welt’ mit ihren Zwängen und Konventionen irgendwo weit hinter sich gelassen zu haben. Die Frage ist einfach, ob man zurückkehrt oder die Farben Frieslands so tief in sich aufgenommen hat, dass eine Rückkehr nur schwer möglich wird. Diese Grenze hat Nolde mit großer Konsequenz überschritten und ist seinem Stil bis ins hohe Alter treu geblieben, hat bis kurz vor seinem Tod am 13.4.1956 an seinem tief in der friesischen Heimat verwurzelten und weit in die Welt weisenden Werk gearbeitet, dessen Faszination wohl nirgends besser zu erfahren ist, als in Seebüll selbst.

Und manchmal im Spätherbst, wenn nur wenige Besucher den Weg nach Seebüll finden, bleibt das Gefühl, der Alte ist nur mal schnell spazieren oder Farben holen und begegnet uns später auf den in Form der Initialen A(da) und E(mil) angelegten Wegen zwischen den verblühten Blumen in seinem Garten. Noch später stehen wir, zurückgekehrt ans Meer, auf dem Deich und sehen, wie die Abendsonne sich glutrot in den Gräben des Vorlands spiegelt. Am Horizont ziehen dunkelviolette Regenwolken heran – da sind sie wieder, die Farben Noldes, die Farben Frieslands.

© Klaus Bölling, November 1998

Quellen:

I. Walter Jens, Der Hundertjährige – Festvortrag zum 100. Geburtstag von Emil Nolde am 7. August 1967 in Seebüll, Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, 1967
II. Tilman Osterwold, Bilder und Texte von Emil Nolde, Ausstellungskatalog Württembergischer Kunstverein Stuttgart 1987
III. Emil Nolde, Mein Leben, Köln 1979
IV. Martin Urban, Aquarelle und „Ungemalte Bilder“, Ausstellungskatalog Lugano 1994

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