Rungholt.
Fragmente.
Ein Versuch von Klaus Bölling
1.
Von all diesen Geschichten sind es
immer wieder die versunkenen Städte, die uns faszinieren, Städte
die einfach von der Landkarte verschwinden, der Erde verschluckt, von Vulkanen
verbrannt oder im Meer ertrunken. Atlantis, Vineta oder eben Rungholt.
Städte deren Mythos die erbärmliche Wirklichkeit längst
in die Vergessenheit gedrängt hat.
Kaum nötig zu erfahren, wie es
wirklich war, wie es gewesen sein könnte.
2.
Zu schnell erzählt, was gewesen
ist. Ein paar Daten, ein paar geologische Gegebenheiten, unser heutiges
Wissen um Land, das sich senkt, um die steigenden Meeresspiegel, die Unmöglichkeit,
sich mit den viel zu schlechten Deichen gegen diese Gegebenheiten zu stemmen.
Eine Flut, die alle bisherigen übertraf,
eine Flut, der andere vorausgegangen, die das Land mürbe gemacht haben,
Wattenströme, die ihren Weg im weichen Untergrund suchen. Eine Flut,
nach der die Landkarte anders aussah, eine Flut, nach der eine Stadt verschwunden
und die ersten Mythen geboren waren. Eine Flut, der andere folgten.
Dann noch ein paar Zahlen, 1362 das
Jahr, 7600 die Zahl der Toten – wer auch immer sie gezählt hat.
3.
Vorstellungen von der Katastrophe,
vom Wasser, das in stürmischer Nacht die unzureichenden Deiche mit
sich reißt? Von den Menschen, für die es keine Zuflucht vor
dem tosenden Meer gibt, die eingeschlossen werden, weggespült nach
den Deichen, weggespült mit ihren Häusern, dem bisschen Hab und
Gut, weggespült mitsamt den Kirchen, die zwischen Schutt, Tierkadavern,
abgesoffenen Nachbarn auf dem Meer treiben – dort wo zuvor ihre blühende
Stadt war?
Nach all den Jahrhunderten seither,
nach all den Fluten seither, bleiben die Mythen, Träume, die Chroniken,
erst Jahrhunderte später geschrieben, die Karten, erst Jahrhunderte
später gemalt.
4.
Da war Rungholt, diese Stadt, dieser
kleine Hafen, irgendwo dort wo heute das weite Watt ist, wo Wattenströme
ihren Weg gefunden haben, wo über dem weggespülten Land wieder
neues Land aufgespült wurde, die kleine Hallig, und dann erneut abgetragen
die Spuren freigibt – Brunnen, die Reste der Warften auf denen die Häuser
standen, Pfähle einer Schleuse. Nichts von den Menschen, aber die
Spur des Pflugs über die Äcker sorgsam bewahrt unter der Schicht
abgelagerter Sedimente. Zerbrochene Krüge, Puzzlespiele.
Viel Stoff für Träume eben.
5.
Der Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne
gerichtet. Dort könnte das Land gewesen sein, Kirchtürme, die
über die viel zu niedrigen Deiche ragen, die Dächer niedriger
Katen, irgendwo die Schleuse, deren Stämme, Jahrhunderte später
entdeckt, Zeugnis geben, dass die Stadt wirklich war und die Karten mehr
sind als Träume der Kartografen von einem Land das hätte sein
können. Dort ist die Hallig weit vor dem Land, wie die Erinnerung
an das einst vorhandene erscheint auch sie vom Land aus unwirklich, gefährdet.
Der Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne
gerichtet, als sei gerade dort das andere Leben möglich.
6.
Was wäre anders gewesen, wenn
sie um den schwankenden Boden, den unausweichlichen Untergang gewusst hätten
in ihrer Stadt, ihren Kirchen?
Hinterher sind es immer die gleichen
Geschichten, die erzählt werden. Geschichten von den Menschen,
die - zu reich geworden - die Macht der Kirche nicht mehr achten, den Priester
verachten, die nichts geben auf seine Reden und nicht mehr glauben an Sakramente,
Gebete und die Ansprüche der Kirche, über ihr Leben zu gebieten.
Geschichte von einem Priester, der darum bittet, diese Menschen zu bestrafen,
von einem Gott, der die verheerende Flut schickt.
Geschichten von einem gutgläubigen
Priester, der allein von seinem Gott gewarnt und gerettet wird, von den
drei Jungfrauen, die brav auf dem Weg zur höher gelegenen Kirche der
vernichtenden Flut entgehen.
Aber vielleicht haben die Menschen
ja doch um den sinkenden Boden gewusst, um ihr verlorenes Land, das Stück
für Stück die Fluten nagten. Und haben gezweifelt, weil sie wussten.
7.
Es ist eine Frage der Möglichkeiten,
eine Frage der scheinbar unumstößlichen und auch der selbst
auferlegten Regeln. Eine Frage ihrer Gültigkeit angesichts des schwankenden
Bodens, der umstößlichen Wahrheiten. Eine Frage dessen, was
sein könnte, wenn nichts mehr heilig ist.
Und so ist das Stellen der Fragen die
aufgeladene Schuld, der Zweifel an der Macht die Begründung der Mächtigen
für die Gerechtigkeit des Untergangs. Da soll niemand sein, der zweifelt
und das Unumstößliche in Frage stellt.
8.
Weil nur dort wo nichts mehr ist alles
möglich scheint, bleibt der sehnsuchtsvolle Blick hinaus – oder die
so oft geübte Zerstörung dessen was ist. Weil irgendwo zwischen
Todessehnsucht und Lebenswut die Freiheit scheint, bleibt der Ausweg imaginär,
der Sehnsuchtsblick in die Ferne.
9.
Traust du diesem Boden auf dem wir
stehen? An das Schwanken gewöhnt ist nichts sicher, könnte sein,
dass der Boden sein Versprechen nicht hält. Woher die Sicherheit –
und woher der Wunsch, das Schwanken endlich zu spüren? Ratlose Spurensucher
ohne jede Hoffnung auf Antwort und bald auch ohne Frage.
10.
Eigentlich sind es die versunkenen
Städte in uns, auf deren Suche wir verzweifeln.
Dezember 1998
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