1992-2012 | 20 Jahre Städtepartnerschaft Homberg-Stolin
Als 1992 die Partnerschaft zwischen Homberg und
Stolin mit einer offiziellen Urkunde besiegelt wurde, hatte sich die
Welt verändert: Der kalte Krieg war vorbei, Deutschland
wiedervereinigt und mit der Katastrophe von Chernobyl war das
grausame Dilemma einer unbeherrschbaren Technik deutlich geworden.
Drei Ereignisse, die mitentscheidend für den Beginn der
Partnerschaft waren.
Ein
Sonnenuntergang, rot glühend hinter ein paar Bäumen am Straßenrand,
gespiegelt in den Gräben zwischen großen Feldern. Viele Stunden
Fahrt liegen hinter uns. Eine Fahrt durch Länder, die wenige Jahre
zuvor kaum durchquerbar waren. Ein Teil davon gehört zum eigenen
Land. Dann stehen Menschen am Straßenrand, singen, ein Akkordeon,
Gurken, fetter Speck und vor allem viel Wodka. Es ist an der
Kreisgrenze zwischen dem Rajon Pinsk und dem Rajon Stolin, beim
Storch, wie wir den Platz nennen, dem Wahrzeichen der Region, dem
Wappentier von Stolin. Noch heute halten wir hier zum Abschiedsfoto
auf der Rückfahrt aus der Partnerstadt.
Es war einer der ersten Hilfstransporte nach
Stolin. 1993, der Ostblock noch nicht lange aufgelöst, Belarus seit
zwei Jahren unabhängig. Und die Reise war ein echtes Abenteuer.
Spätestens ab der polnischen Grenze bei Frankfurt (Oder) begann der
Osten. Kaputte, ausgefahrene Straßen, obskure Händler am Straßenrand
boten Körbe, Gartenzwergplagiate, Zigaretten, Schnaps oder andere
Dienstleistungen an. Armutsgeschäfte.
Je weiter nach Osten, umso
ausgefahrener die Spurrillen, umso wahnwitziger die Überholmanöver
der Trucker. Noch viel östlicher dann die Grenze zu Belarus bei
Brest. Unendliche LKW-Schlangen, viele Hilfstransporte. Die
Katastrophe von Chernobyl war präsent. Eine THW-Station kurz vor
Brest, wie der letzte Vorposten unserer Welt. Nach vielen weiteren
Stunden dann der Sonnenuntergang und unsere Freunde. Wassily mit der
Trompete, Nikolai mit dem Akkordeon, die Mädels mit den großartigen
Stimmen. Freunde, die heute zwar nicht mehr am Storch auf uns
warten, aber spätestens in Stolin - mit Gurken, fettem Speck und
viel Wodka.
Homberg wollte eine Partnerstadt im ehemaligen
Ostblock, Homberg wollte eine Partnerstadt, die unsere Hilfe
braucht. Und Homberg wollte eine Partnerstadt in vergleichbarer
Größe. So sind wir mit der kleinen Stadt Stolin in Palessje
(Polesien), der sumpfigen Region nahe der Grenze zur Ukraine,
zusammengekommen. Stolin in Belarus, 1991 nach der Auflösung der
Sowjetunion unabhängig geworden. Stolin, 230 km entfernt von
Chernobyl. Dort wo der radioaktive Regen das Leben der damals
ahnungslosen Menschen verändert hat.
Hilfstransporte nach Stolin 1993/1994
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Anfang der 90er war Stolin eine typische Stadt im ehemaligen
Ostblock: grau, verfallen, arm. Aber da waren auch die Menschen, die
uns empfingen: bunt, warmherzig und gastfreundlich. Stolz auf ihre
Kultur, die Lieder und die großartige, in Europa einmalige
Naturlandschaft mit viel Wasser, Wäldern und Sümpfen.
Heute
kommen wir in eine andere Stadt, sie ist nicht mehr grau, nicht mehr
so verfallen und auch nicht mehr so arm. Belarus ist ein
problematischer Staat, autoritär regiert, mit einer verfolgten,
zersplitterten Opposition, politischer Repression. Unsere Freunde
sind geblieben, zu ihnen halten wir den Kontakt, immer in der
Hoffnung auf eine gute, demokratische Entwicklung von Belarus, immer
in der Hoffnung auf das Verschwinden einer Grenze, die Belarus von
Westeuropa trennt, deren Überquerung noch immer unendlich Nerven
kostet. Und die Sonne ist geblieben, die an den guten Tagen mit ganz
großem Spektakel im Wasser glüht.
Stolin 2012
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Unterwegs zu Freunden
20
Jahre nach Beginn der Städtepartnerschaft machen wir uns am 11. Mai
wieder auf den Weg nach Belarus. Es ist der 26. Hilfstransport, den
der Partnerschaftsverein Homberg-Stolin durchführt. Wir sind
professionell geworden, keine fragwürdigen, zusammengeborgten LKW,
keine teuer gemieteten Trucks. Der Partnerschaftsverein hat einen
eigenen LKW und ein Wohnmobil, alt, gebraucht, aber einsatzfähig.
Bei Frankfurt (Oder) gibt es keine wirkliche Grenze mehr, der Weg
durch Polen führt nicht mehr über durchgerollte Pisten, sondern
mautpflichtige Autobahnen nach französischem Standard.
Das Abenteuer beginnt an der belarussischen
Grenze. Die kleine Stadt Terespol auf polnischer Seite, die große
Stadt Brest auf der belarussischen. Dazwischen der Bug und eine
wirkliche Grenze. Grenzer, wie es sie mitten in Deutschland auch
einmal gab. Grenzer, die den Lehrgang ‚provokatives Schlendern‘
erfolgreich absolviert haben. Egal, wie lang die Schlange ist:
Blickkontakt vermeiden und so tun, als sei kein Auto vorhanden.
Schlendern und erst mal gemütlich ein Zigarettchen rauchen.
Stundenlang stehen wir und hoffen darauf, dass niemand Anstoß an
unseren Gepäckmengen und den Geschenken für die Freunden nimmt.
Der LKW muss einen anderen Übergang passieren,
seine Abfertigung dauert noch wesentlich länger. Eine
8-Stunden-Arbeitsschicht geht dabei schon mal drauf – trotz
Verplombung der Ladung. Hilfstransporte dürfen sich noch immer an
der kilometerlangen LKW-Schlange, die sich durch die polnische
Grenzregion zieht, vorbeimogeln. Die normalen Transporte schaffen
den Übertritt nicht an einem Tag. Auch das ist Mitteleuropa nach dem
Zusammenbruch der Blöcke. Wie in jedem Jahr gärt in uns der wütende
Entschluss, nicht wiederzukommen. Zwischendurch melden die Freunde
aus Stolin schon mal, dass wir diesmal auf Einladung der
Kreisverwaltung im Hotel untergebracht werden. Sonst übernachten wir
immer im Wohnheim einer Fachhochschule – natürlich auf eigene
Kosten. Stolin hat etwas vor in diesem Jahr.
Unterwegs nach Belarus | 26. Hilfstransport 2012
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Das Hotel Goryn in Stolin – ein wüster Schuppen,
sowjetisch-grau, verfallen, fragwürdig riechend. Die betonierten
Treppenstufen haben alle eine unterschiedliche Höhe. Eine echte
Herausforderung für die nächtliche Heimkehr nach vielen Gläschen auf
Freundschaft, Gesundheit, Liebe und noch mehr Freundschaft. Rostige
Rohre in den Bädern, braunes Wasser in den Abstufungen kalt und
eiskalt. Eine Stube in der finstere Gestalten noch finsterere
Zigaretten qualmen. Krümelige Füllung und ein Pappmundstück, das
leicht zusammengedrückt wird. Vielleicht werden sie aus Tabak
hergestellt. Die Freunde haben tief inhaliert und dann ‚Chernobyl‘
gesagt, es geht hier nicht ohne makaberen Humor.
So war es 1993. Inzwischen wurde das Hotel ‚Goryn‘
mehrfach renoviert, die Zimmer sind hergerichtet, zum Teil kleine
Suiten mit zwei Räumen, die Bäder ok, das Wasser klar und heiß und
der Schlaf tief nach anderthalb Tagen Fahrt quer durch Europa. Aber
die Treppenstufen sind noch immer nicht ganz ohne Herausforderung.
Am
Sonntag wird der Tag des Nationalwappens und der belarussischen
Flagge gefeiert. Rund um den Platz mit dem großen Lenin an der
Sovjetskaja stehen junge Menschen mit Fahnen und dem Nationalemblem.
Es gibt pathetische Reden. Irgendwie versteht man sie auch ohne
Sprachkenntnis. Jedes zweite Wort lautet Belarus. Auch die
Abgeordnete spricht. Unsere Delegation wird vorgestellt und mit
Applaus begrüßt.
Die derzeitige belarussische Flagge wurde 1995
nach einem Referendum mit geringer Beteiligung eingeführt. Sie
gleicht der Fahne der Sozialistischen Sowjetrepublik Belarus, nur
ohne Hammer und Sichel. In der kurzen Zeit zwischen der nationalen
Autonomie und der Rückbesinnung auf die Sowjetzeit nach der
Machtübernahme durch Lukaschenka – der wurde 1994 tatsächlich mal
demokratisch gewählt – wehte die historische Flagge Weißrusslands,
weiß-rot-weiß quergestreift. Heute wird sie oft von der Opposition
verwendet und daher öffentlich nur von den Mutigen und Desperados
gezeigt.
Tag des Nationalwappens und der belarussischen Flagge
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auch die örtliche Presse berichtet über unsere
Teilnahme an der
Veranstaltung |
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Unsere Freunde vom Chor Kriniza sind da und
singen, Betreuer der Kinderaufenthalte kommen vorbei und grüßen,
junge Erwachsene, die als Kinder in Homberg waren, sagen kurz Hallo.
Wir sind in Stolin angekommen, 9 Leute aus Homberg, die ziemlich
leger zwischen den festlich strammen Weißrussen stehen. Niemand
erinnert sich mehr an die wütenden Schwüre an der Grenze. Lenin
steht auf seinem Sockel und schaut über die Stadt. In seinem Rücken
liegen der Park und die wunderbare, wasserreiche Landschaft. Es wäre
der schönere Ausblick.
Den genießen wir am Nachmittag. Unterhalb der
Destillerie an der Stadtgrenze zu Mankovichi gibt es einen kleinen
Strand. Früher lagen hier sogar mal ein paar Tretboote, aber die
sind längst verschwunden. Jetzt wartet ein kleines Boot des
Naturschutzes auf uns. Über ein paar Nebenarme fahren wir auf den
Goryn, der unserem Hotel den Namen gegeben hat, aus der Ukraine
kommt, sich an Stolin und David-Horodok vorbei durch Polesien
schlängelt und in den Pripjet mündet. Wir fahren durch die sumpfige
Landschaft, an den Ufern hocken Angler. Leider ist das Wasser in
diesem Frühjahr sehr tief und wir können kaum über die steile
Uferböschung schauen.
Zum Glück ist es kalt und windig, da kommen die
Mücken nicht raus. Nicht weit entfernt liegen die Olmany Sümpfe,
eine einzigartige Naturlandschaft, in Europa einmalige Sümpfe.
Stolin sieht hier eine touristische Zukunft, das betonen unsere
Partner immer wieder. Da erinnern wir uns dann doch wieder an die
Stunden an der Grenze.
Eine Bootsfahrt auf Kopanets und Goryn
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Teil 2/Part
2/частка 2: Ein Fest der Freundschaft
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