Es
ist die Geschichte der Sintflut. Welche andere Erklärung soll man
hinterher finden für die Zerstörung, die Sturmfluten angerichtet
haben. Und so wird der Untergang Rungholts von denen, die die Chroniken
schreiben für ihre eigenen Zwecke genutzt.
Zumeist waren es die Priester und Prediger, die die Chroniken
schrieben, die begannen, die mündlichen Geschichten zu
verschriftlichen und nach ihren eigenen Interessen zu
interpretieren. Und so fand sich auch für den Untergang Rungholts
die passende Sage. Interessant ist aber auch hier, dass die
Geschichte - wie schon die gezeichneten Karten der Edomsharde und
Rungholts - wieder aus dem 17. Jahrhundert, der Zeit nach der
zweiten groten Mandränke stammen.
Mit Abstand von 300 Jahren wird Rungholt zu einer reichen,
blasphemischen Stadt, in der die Werte des Christentums - oder die
Vorstellung der Kirchenoberen von diesen Werten - nicht angemessen
beachtet werden. Ein paar Burschen begehen frevlerische Taten,
schänden heilige Insignien des Abendmahls. Und wie es sich für
wahre Christen gehört, bittet der Pfarrer um die gerechte Strafe
für die Tat, verlässt rechtzeitig die Stadt, die anschließend
durch die verheerende Flut zerstört wird - gemeinsam mit den
Frevlern und ein paar tausend weiteren Opfern. Gerettet wird nicht
nur der Priester, sondern auch noch zwei bis drei Jungfrauen -
schließlich müssen am Ende immer ein paar Gerechte übrig bleiben.
Es gibt verschiedene Fassungen der Sage, eine stammt aus der 1666
erschienenen 'Nordfresischen Chronick' von Anton Heimreich:
Die Rungholtsage nach Anton Heimreich
"Unter allen diesen ertrunckenen örtern ist insonderheit
benahmet der flecke Rungholt, von dessen verwüstung und untergang,
wie auch künfftigem wolstande der gemeine mann beydes in vorigen
und auch noch jetzigen zeiten viel wunderdinges erzehlet. Inmassen
man berichtet, daß auff eine zeit etliche muthwillige gäste eine
saw" [=Sau], "mit verlaub, sollen truncken gemachet und zu
bette geleget haben, und darauff den prediger lassen ersuchen, er möchte
ihrem krancken das Abendmal reichen, und sich dabey verschworen, daß,
wenn er bey seiner ankunfft ihren willen nicht würde erfüllen, sie
ihn in den graben stossen wollten. Wie aber der prediger das H.
Sacrament nicht so grewlich wollen mißbrauchen, und sie sich
untereinander besprochen: ob man nicht solte halten, was man
geschworen? Und der prediger daraus leichtlich gemerket, daß sie
nichts gutes mit ihm in sinne hätten, hat er sich stillschweigens
davon gemacht. In dem er aber wieder heim gehen wollen, und ihm zwo
gottlose buben, so im kruge gesessen, gesehen, haben sie sich
beredet, daß so er nicht zu ihnen herein gehen würde, sie ihm die
Haut wolten voll schlagen. Sein darauff zu ihm hinaus gegangen,
haben ihn mit gewalt ins hauß gezogen, und gefraget, wo er gewesen?
Und wie ers ihnen geklaget, wie man mit Gott und ihm habe
geschimpffet, haben sie ihn gefraget, ob er das H. Sacrament bey
sich hätte? und ihn gebeten, daß er sie dasselbe möchte zeigen.
Darauff er ihnen die Büchse gegeben, darin das Sacrament gewesen,
welche sie voll bier gegossen, und Gotteslästerlich gesprochen, daß
so Gott darinnen sey, so müsse er auch mit ihnen sauffen, und wie
der prediger auff sein freundliches anhalten die büchse wider
bekommen, sey er damit zur kirchen gegangen, und habe GOTT
angeruffen, daß er diese gottlose leute wolle straffen. Darauff er
in der folgenden nacht sey gewarnet worden, daß er aus dem lande,
so Gott verderben wolte, solte gehen, sey auch auffgestanden und
davon gegangen, und habe sich alsobald ein ungestümer wind und
hohes wasser erhaben, dadurch das gantze land Rungholt (oder wie
andere melden, gantze sieben kirchspiele, worunter Rungholt das
vornehmste gewesen) sey untergegangen, und niemand davongekommen,
als gemeldeter prediger und zwo (oder, wie andere setzen, seine magd
und drey) jungfrawen, so den abend zuvor von Rungholt aus auff
Bobschlut zur kirchmeß sein gegangen. . ."
Die Sage ist natürlich keine authentische Schilderung der
Ereignisse im Jahr 1362, sondern eine Vermischung verschiedener
Quellen. Zum einen beinhaltet sie natürlich den Gehalt der
biblischen Sintflut-Geschichte, zum anderen nimmt sie Bezug auf
überlieferte Quellen. Die Geschichte der zwei oder drei Jungfrauen
taucht öfter auf, zeitgenössische Stammbäume leiten die Herkunft
mancher Familie auf diese Jungfrauen zurück. Da der Hinweis auf
diese Jungfrauen in verschiedenen Quellen auftaucht und einige der
in den ebenfalls erst im 17. Jahrhundert erstellten Stammbäumen
genannten Personen in älteren Kirchenbüchern auftauchen, geht
Henningsen davon aus, dass dieser Hinweis einen gewissen
Wahrheitsgehalt besitzt.
Für andere Teile der Sage gibt es ebenfalls Quellen, die sich
allerdings nicht auf Rungholt beziehen. Die Schändung der
Oblatenbüchse gehört zu den Standardbeispielen für
Gotteslästerung in christlichen Exempelbüchern. Die
Geschichte mit dem Pastor und der trunkenen Sau taucht ebenfalls in
verschiedenen Quellen auf, sie wird aber insbesondere im
Zusammenhang mit dem Untergang des Ortes Fedderingman-Capell - ein
Nachbarort Rungholts, der ebenfalls 1362 zerstört, später aber wieder besiedelt wurde - im Jahr 1532 von zeitgenössischen Quellen
erzählt. Auf diese Quelle von Samuel Meier weist auch Heimreich
hin.
Somit ist die Rungholtsage allenfalls ein Konglomerat
verschiedener Herkunft und gibt keine wirkliche Auskunft über den
Untergang des Ortes.
Auffällig ist allerdings, dass bei der Vielzahl zerstörter
Siedlungen und Kirchspiele in der Geschichte der Uthlande immer
wieder in Überlieferungen und späteren Karten auf Rungholt Bezug
genommen wird. Heimreich weist am Beginn seiner Fassung der
Sage auf die Besonderheit dieses Ortes hin. Auch wenn der von ihm
angenommene Reichtum des Ortes wohl eher zu relativieren ist, so
scheint Rungholt doch eine herausragende Bedeutung gehabt zu haben -
trotz praktisch kaum vorhandener Quellen aus der Zeit vor 1362.
Quelle: Hans-Herbert Henningsen,
Rungholt - der Weg in die Katastrophe, Husum 1998
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